Alles fühlt - wir auch?

Gestern erschien in meiner Timeline bei Facebook ein Spruch:
We have to create.
It is the only thing
louder than destruction.
Wir müssen erschaffen - es ist das Einzige, was lauter ist als Zerstörung. Die Worte kamen genau zum richtigen Zeitpunkt, denn die vergangene Woche bei FB war so eklig, disgusting, dégoûtant, dass mir die Wörter nicht mehr ausreichen für meinen Überdruss. Das jedenfalls will ich nicht mehr! Und ich habe da eine Idee ... aber der Reihe nach!

Ich lebe dort, wo andere Menschen Urlaub machen: im Naturpark Nordvogesen, der zusammen mit dem Pfälzer Wald ein grenzüberschreitendes Biosphärenschutzgebiet zwischen Frankreich und Deutschland bildet. Diese Natur und meine Grenzgängereien erden mich, geben mir Kraft, inspirieren mich. Davon will ich erzählen ...


Generation Schreckschraube

An der miesen Woche bin ich natürlich selbst schuld. Ich hatte es mir nicht verkneifen können, bei Aussagen der (angeblichen) Aluhutfraktion Fakten zurechtzurücken - und das auch noch in den Kommentarspalten öffentlicher Medien. Wer sich dahin begibt, kommt darin um, sage ich mir selbst so gern. Die Reaktionen waren abzusehen: Social Bots, die sich im Namen irgendeiner sondererleuchteten Politik gemeinsam auf einen stürzen. Schreckschrauben, die sich regelrecht anzecken, um einen vor den anderen mit Dreck zu bewerfen und zu einer Wunschfigur umzubauen, an der sie sich abarbeiten können. Und die Unbelehrbaren, denen man offenbar in die Parade, pardon, Propaganda gefahren ist. Es wurde genügend über diese Sorte Mensch geschrieben und geforscht, das will ich meinen LeserInnen hier ersparen. In Mailinglistenzeiten nannte man es noch niedlich Gruppendynamik und sperrte Trolle gnadenlos aus, ächtete ihr Verhalten. Social Media von heute haben leider Kommunikationsstrukturen, die solche Leute züchten und mit heißer Luft aufblasen.

Kurzum: Ich mag mir das nicht mehr geben. Aber auch nicht mehr in eben diese strukturellen Fallen tappen. Und ich habe mit Erschrecken festgestellt:
  1. Was wir als "Aluhutfraktion" vor wenigen Jahren belacht haben, weil angeblich ungebildet, hat inzwischen auch Intelligente und Intellektuelle erfasst. Keiner ist vor Propaganda und Fakenews gefeit.
  2. Argumente, Aufklärung, Sachlichkeit: Wird in diesen Strukturen nicht nur nicht mehr verstanden. Es kommt nicht mehr an. Es prallt ab.
Zum Glück habe ich gestern zu eben diesem Thema ein hochspannendes Radiogespräch mit Brooke Gladstone gehört. Die Journalistin und Medienanalystin hat das in wenigen Wochen vergriffene Buch geschrieben "The Trouble With Reality. A Rumination on Moral Panic in Our Times." In meinem Kopf fing es an zu ticken. Darum auch das pinkfarbene Schild bei Facebook mit dem Wort "Cut", wie bei der Filmklappe: Schnitt!

Geist

Ich glaube, ich habe meinen eigenen Weg des Sich-Entziehens (ohne das Aufhören) gefunden. Ich halte den anderen Weg nach wie vor für unverzichtbar, den so viele wackere und fleißige JournalistInnen endlich wieder ganz bewusst gehen: Faktencheck, Aufklärung, Widerlegen und Argumentieren, Hintergründe aufzeigen, Verstand verbreiten, etwas für die Bildung tun. Es ist der Weg des Geistes, der so wichtig ist wie schon lange nicht mehr. Auch wenn er viele gar nicht mehr erreicht, weil unsere gesamte Kommunikationskultur im Netz zunehmend nur noch auf eins ausgerichtet ist: Emotionen und die viel zu schnelle Überhitzung derselben (er bewahrt aber ebenso viele, wenn nicht mehr, vor dem Komplettabsturz in perfide Fakewelten). Aber für diese Arbeit braucht es ausreichend Geld und große Strukturen. In der heutigen Zeit sogar globale Verbundstrukturen, etwa bei der Recherche. Das ist mir auch wieder klar geworden, als ich mit dem Thema "Europa" kürzlich hier baden ging. Ich bin zu klein dazu.

Emotion

Überhitzung der Emotionen. Wer kennt das nicht: das zunehmende Gefühl, sich nach dem Online-Quatschen desinfizieren zu müssen. Social Media sind toll und haben ihre guten Seiten. Aber sie ziehen einen immer öfter runter, machen einen regelrecht krank. In der letzten Woche kochte es sich dann bei einigen so auf, dass ich spontan daran denken musste: Das ist, als würden sich diese Leute absichtlich schneiden. Als könnten die sich nicht mehr fühlen. Noch eins drauf, noch hitziger, bitte nur noch Extrememotionen! Damit man überhaupt noch etwas fühlt. Auf die anderen treten, nachtreten und nochmal draufspringen! Damit man sich endlich wieder als ein Selbst wahrnimmt, endlich wieder jemand ist. Und wehe, es lässt sich das Gegenüber mal nicht manipulieren. Unsere Gesellschaft ... schneidet sich ...?

Cut.

Diesmal ein ganz anderer Schnitt. Emotionen kann ich auch. Ich habe so viele wundervolle Aufträge in meinem Leben bekommen, weil meine Spezialität die ist, sehr komplexe oder wissenschaftliche Zusammenhänge so zu erzählen, dass man plötzlich wieder etwas mit den Sinnen wahrnimmt. Und nach der Wahrnehmung das Fühlen. Ich habe meine sachlichsten Texte unter großen Emotionen geschrieben: Ich selbst brannte für mein Thema und ich war voller Leidenschaft dabei. Eines der großen Geheimnisse beim Schreiben: Diese Leidenschaft sorgt irgendwie dafür, dass ein Text berührt. Wer berührt wird, fühlt. Da draußen ist nicht nur das Unvermögen zu fühlen. Da ist auch ein riesiger Hunger nach konstruktiven Gefühlen - nämlich denen, die für ein Überleben, für Entwicklung, für Hoffnung so wichtig sind. Reicht es aus, die mit Katzenbildchen oder dümmlichen Sinnsprüchen zu bedienen?

Ich weiß nicht, ob es mir je gelingen wird - der Sog bei FB ist übel groß. Aber ich versuche jetzt eine Gegenstrategie. Lebendiges Erzählen, ruhig auch emotionales Erzählen, kann etwas, was der kühle Sachtext im Wissenschaftssprech nicht (will und nicht) kann - neugierig machen. Mit kindlicher Neugier fängt alles an: das Erkunden, das Spielen, das Fragen statt Antworten, eine Bewegung vorwärts statt rückwärts, den anderen so sein lassen, sich umschauen, über den Horizont gehen wollen, die eigenen Begrenzungen vergessen. Neugier ist der wichtige Schritt vor dem Lernen wie der Kunst, vor dem Kreativwerden wie dem Sich-Öffnen. Die Evolution der Menschheit kam nur so weit, weil der Mensch ein neugieriges Tier ist. Und das ist es, was all den "besorgten Bürgern", Hassern und Neidern, Fundamentalisten aller Denkrichtungen und Extremisten der Lebensverachtung zu eigen ist: Sie haben verdammt viel Angst, aber keine Neugier mehr! Angst und Neugier vertragen sich nämlich nicht.

Das neue Fühlen

Im Hinterkopf hatte ich auch das wunderbare literarische Sachbuch von Andreas Weber: "Alles fühlt" (pdf mit Leseprobe). Es hat mich ebenso beeindruckt wie die Texte über "Das geheime Leben der Bäume" von Peter Wohlleben. Von Andreas Weber stammt auch das "Enlivenment Manifesto" für das Anthropozän. Und das sehr lesenswerte Essay "Enlivenment: Towards a Fundamental Shift in the Concepts of Nature, Culture, and Politics", das von der Heinrich Böll Stiftung veröffentlicht wurde und frei zugänglich bei Shareable zu lesen ist.

Es gibt schon die ersten Verächter, die bemängeln, dass es in der Wissenschaft plötzlich um Gefühle gehe. Nicht allein in der alten Art und Weise, weil man sie aufschlüsseln und erforschen möchte. Plötzlich werden Begriffe, die einst nur dem Menschen vorbehalten waren, auf die übrige belebte Welt angewandt. Jetzt lässt es sich aber auch wissenschaftlich sichtbar und nachprüfbar machen, wenn etwa Pilze über ihr "Myzel-Internet" Bäume "anfunken" und die wiederum weitergeben, was ihnen bei der Ernährung fehlt, damit der Pilz das für ein leckeres Gegengeschenk heranbuckelt. Eine Geschichte von vielen, die man mit wachen Sinnen im Wald regelrecht mit Händen be-greifen kann.

So passierte das also, dass Impulse aus allen möglichen Richtungen über viele Wochen einen Hirnbrei anrührten, den mir wohl die letzte Woche bei FB nur noch aufkochen musste. Mal sehen, ob ich die Kurve bekommen werde!

Tagesaktuelle Politik und Aufreger gibt's möglichst nur noch bei Twitter. Ich werde natürlich kein unpolitischer Mensch werden, aber mein Storytelling bei FB möglichst komplett verändern.

Überschrift für mich selbst: Neugier & Leidenschaft.

Anstatt trocken und sachlich über Europa zu dozieren, werde ich hoffentlich öfter mit meinem Fotoapparat unterwegs sein und Geschichten erzählen - schließlich lebe ich dort, wo andere Urlaub machen. Und bevor ich mich wieder mit männlichen wie weiblichen Schreckschrauben herumschlage, die ihre Weltsicht aus der Verblödungsmaschinerie rückwärtsgewandter und extremistischer Politik beziehen, möchte ich lieber von denjenigen erzählen, denen ich in der Mittagspause begegne und die meine Arbeit im Atelier Tetebrec so prägen: Pflanzen und Tieren, die spannender sind, als wir uns das vorstellen können.

Um sich selbst fühlen zu können hinter all den Angstfassaden der Onlinewelt, braucht der Mensch nämlich auch einen gewissen Stand, eine Verankerung. Nicht im nationalistischen Blut-und-Boden-Schlamm, sondern in der Erde, die uns alle trägt - wenn wir sie nicht zerstören. Wenn ich mit Menschen im oder über den Wald rede, stelle ich jedoch häufig fest: Die meisten spüren auch die Erde nicht mehr wirklich. Haben keine Emotionen mehr für die Natur, manchmal sogar nur noch die Abwehr der Entfremdung übrig. Meine Akkus für mehr Fotos stecken im Ladegerät - und fremde Fotos zum Anschauen und Schwelgen für alle sammle ich in meinen Alben bei Pinterest.

Und Bücher?

Jetzt aber husche ich ins Atelier, denn da liegt ein brandneues Projekt auf dem Tisch. Es ist nämlich gestern noch ein Knoten aufgegangen. Ich habe ja selbst mein Bücherschreiben nicht mehr spüren können - und das kommt auf eine sehr seltsame Art zurück! Das nächste Buch von mir wird sich dem 99-Cent-Verramschemarkt vollkommen entziehen, denn es wird ein absolutes Unikat. Handgefertigt.

Ich arbeite derzeit rückwärts: Zuerst entsteht die Form, wird ein Künstlerbuch geschaffen, von Hand. Während ich die äußere Form bastle, entsteht ein Text im Kopf, der teilweise als Ausdruck im "Buch" landen wird, teilweise von Hand geschrieben. Ich klebe, pinsle, male, notiere, reiße ab und baue auf, schwelge in Farben und Strukturen, unterschiedlichen Papieren. Manche Leute wollen Haptik? Aber dann richtig! Manche wollen digitale Texte? Aber dann ganz anders: dieses Künstlerbuch wird seine Geschichten mit Online-Stoff vernetzen. Fragt mich nicht, was es wird - das weiß ich selbst noch nicht. Ich weiß nur: Jetzt, wo der Knopf aufgegangen ist, wird da etwas werden ...

Und falls ich mal wieder massiv in alte Muster zurückfallen sollte: mich einfach virtuell am Ärmel ziehen!

Für unbewusste Handgriffe beim Knopföffnen danke ich zwei inspirierenden Mutmacherinnen, deren Arbeit ich dick empfehlen möchte: Sylvia Richard-Färber mit ihrer Musik und ihrem Leben als Gesamtkunstwerk - und der Aktionsmalerin Etelka Kovacs-Koller mit ihren lebenssprühenden Bildern. Und was wäre mein Lesestoff ohne Patrick Breitenbach von ZDFdigital, der so viele spannende Links hat und mich mit dem Soziopod im Atelier zum Nachdenken bringt. Stöbern in den Links lohnt sich!

1 Kommentar:

  1. Wunderbarer Post, liebe Petra, und so wahr. Mir geht es wie dir. Mein polarisierendes Thema ist der Wolf, und was glaubst du, welche Hasstiraden ich manchmal zu hören bekomme. Das war auch einer der Gründe, warum ich vor ein paar Jahren meinen Facebook-Account gelöscht habe. Man hat keine Kontrolle über die Kommentare. Jetzt bei Google+ und natürlich auch auf meinem Blog, kann ich die Extremisten rausschmeißen, was ich auch gnadenlos tue.
    Ich bin gespannt auf dein neues Projekt und wünsche dir ganz viel Kreativität.

    Ich war im letzten Jahr übrigens zu einer Lesung zum ersten Mal in den Vogesen und war völlig fasziniert, wie schön es dort ist. Für jemanden, der Ruhe und Natur sucht, ein idealer Urlaubsort.

    LG

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