Der Wald in der Stadt

Stell dir vor, du öffnest morgens in der Großstadt dein Fenster ... und atmest Wald.
Eine Zukunftsvision? In meiner Jugend schrieb man noch den Spontispruch "Unterm Pflaster liegt der Strand" auf Beton, zeichnete daneben ein einsames Löwenzahnpflänzchen, das die Kraft hat, auch harte Oberflächen zu durchdringen. Wer "Öko" war, flüchtete aufs Land, träumte vom einsam gelegenen Bauernhof. Seit Trendsetter in New York, Paris oder Berlin es vormachen, gerät allerdings immer mehr Natur in die Metropolen. Samenbomben auf öffentliche Flächen zu werfen, ist längst nicht mehr anarchistische Revolutionsgeste, inzwischen pflegen Anhänger von Incredible Edible und "Die essbare Stadt" ihre Allmendbeete mit dem offiziellen Segen der Kommunen. Aus dem Guerilla Gardening der 1970er und 2010er ist "Urban Gardening" geworden und der Hipster, der auf sich hält, züchtet Bienen auf dem Balkon. Die Bewegung der Hobbyimker ist übrigens schon so groß, dass man Auswüchse moniert. Wie viel Natur "kann" eine Metropole?

Auch auf dem unwirtlichsten Boden siedeln sich Pflanzen an - wie dieses Moos auf einem Betonpfeiler.
Die Frage ist essentiell, wenn man das Wachstum der sogenannten Mega-Cities anschaut, das Wachstum der Bevölkerung überhaupt. Mega-Cities haben mehr als 20 Millionen Einwohner, oft große Slum-Gebiete und ein Mikroklima, das nicht selten aus dem Ruder läuft. Da jetzt schon jeder zweite Mensch dieser Erde in einer Stadt lebt (s. Link), eine große soziale und ökologische Herausforderung für die Zukunft.

Die meisten Initiativen wurden vor ein paar Jahren noch belächelt. Bei Facebook lässt sich feststellen, wie unbekannt selbst bei gebildeten und am Thema interessierten Menschen die Fortschritte und Möglichkeiten sind. Viele ahnen nicht, wie hart daran geforscht wird, die Weltbevölkerung der Zukunft mit ungeahnt neuen Methoden satt zu bekommen, weil irgendwann nicht mehr genug Landflächen und Ressourcen für glückliche, freilaufende Kühe vorhanden sein werden. Ein Thema, das alle betrifft, ungeachtet ihrer Speisevorlieben.

Es mag vielleicht für manche lachhaft wirken, wenn Schulen und Altenheime plötzlich Kurse im urbanen Imkern belegen. Oder wenn zwei polnische Designerinnen schicke Lampen entwickeln, in denen man gleichzeitig Pflanzen großziehen kann: Wozu soll das gut sein? Salat im Supermarkt selbst pflücken - ein Versuch in Berlin - kann das vom Energieverbrauch her sinnvoll sein? Bringt das überhaupt etwas?

Die "Szene" ist längst über sich hinausgewachsen. Industriebrachen wie im verfallenden Detroit bieten heute Platz für die erste "Agrihood" Amerikas, die nicht nur 2000 Haushalte kostenlos mit Obst und Gemüse versorgt, sondern auch sozial und in der Bildung engagiert ist: Kinder lernen den Umgang mit nachhaltigem Gärtnern, Anwohner engagieren sich ehrenamtlich und finden aus ihrer Isolation heraus. Das flächenmäßig kleine Japan sorgt durch ungewöhnliche Anbaumethoden für Nachschub bei Obst und Gemüse: Farmfabriken im Innern von Gebäuden oder unterirdisch angelegt, komplett von Computern gesteuert und mit LED-Technik beleuchtet. Die Anbauweise: "Hydroponik" und "Aeroponik", also Hydro- und Luftkultur. Über 200 solcher Fabriken gibt es bereits in Japan, nach Angaben des zuständigen Ministeriums wächst hier pro Quadratmeter 100% mehr als auf herkömmlichen Feldern, bei 40% weniger Energieverbrauch, 80% weniger Nahrungsmittelvergeudung und sogar 99% weniger Wasserbedarf. Noch mag man sich nicht ausmalen, was passiert, wenn einmal Katastrophen die Computersysteme oder die Stromversorgung treffen würden, aber das vielversprechende System ist in allen Größen zu haben, selbst für Großraumbüros und Cafeterien.

Werden wir eines Tages unsere Salate wirklich außerhalb von Erde und Nährlösung züchten, indem wir deren Wurzeln mit einem wissenschaftlich erforschten, genau ertüftelten Gemisch aus Wasser, Sauerstoff und Nährstoffen nur noch besprühen, dieses fast unendlich recyceln und dank Aeroponics keinen Bedarf mehr an Herbiziden, Pestiziden und Fungiziden haben? Die Technik ist längst in Anwendung. Oder lagern wir künftig High-Tech-Kuhställe mit Begrünung und Beeten aufs Meer aus, wie das in Rotterdam erprobt wird?

All diese Beispiele zeigen eins: Der Mensch ist angesichts der Herausforderungen der Zukunft wie Bevölkerungswachstum, Wasserknappheit oder Klimawandel erfindungsreicher, als er sich das manchmal selbst zutraut. Während die einen noch von der Landidylle von anno dazumal träumen, ist die grüne Revolution in den Städten längst in vollem Gange.

Spannend wird es, wenn auch die "wilde" Natur in Großstädte geholt wird. Parkflächen und selbst innerstädtische Reste von Wald sind begrenzt, oft durch Bebauung bedroht. Die Idee liegt nahe: Warum nicht einfach in der Vertikale pflanzen? Kinder in aller Welt haben wahrscheinlich schon einmal von hängenden oder stehenden Gärten aus alten Plastikflaschen gehört oder selbst welche gebastelt. Youtube ist voll von Anleitungen und Schulprojekten. Dass Upcycling mit Arbeit verbunden ist, hat sogar einen neuen Hobbygärtnermarkt entstehen lassen, mit allerlei nützlichen und unützen Fertigteilen und Gimmicks. Erfunden hat die Hängenden Gärten allerdings nicht der französische Botaniker Patrick Blanc, der auch die grüne Wand für das Berliner Kaufhaus Dussmann entwarf. Es waren die Babylonier, Meister des frühen Gartenbaus in unwirtlichen geographischen Lagen. Oder auch ihre Feinde, die Assyrer, wie eine Forscherin nun wissen will. Sie hat Hinweise gefunden, dass das berühmte Weltwunder der Hängenden Gärten der Semiramis von König Sanherib bereits 700 v. Chr. gebaut worden sein könnte. Eher als terassenförmige Anlage konzipiert, war der Park des Königs noch nicht wirklich vertikal im heutigen Sinne, aber hochmodern: Mit der sogenannten archimedischen Schraube oder Schneckenpumpe wurden die Gärten im Wüstenland aus einem raffinierten System von Kanälen bewässert.

Vertikale Gärten erobern die Architektur. Ob Santalaia im kolumbianischen Bogotá, der Bosco Verticale in Mailand oder Juli Capellas "lebende Wand" in Barcelona - gemeinsam ist den Projekten, dass sie sehr neu sind. Oft eben erst fertiggestellt, bieten sie für die Zukunft jede Menge Entwicklungsmöglichkeiten zwischen Gartenbau und Design, Ingenieurskunst und Landwirtschaft. Ein kleines Video, wie man den Wald auf die Wolkenkratzer schafft:



Stefano Boeri heißt der Architekt, der neuerdings Schlagzeilen macht. Er ist der Schöpfer des Bosco Vertikale, das vor Jahren viele nicht für möglich hielten - und jetzt hat er in Nanjing in China einen vertikalen Wald gebaut, der im nächsten Jahr fertiggestellt sein soll - ein Wolkenkratzer in Grün. Etwa 2500 Büsche und über 1000 Bäume sollen dann täglich rund 60 kg Sauerstoff produzieren.

Es ist nur ein einzelnes Projekt von vielen Umsetzungen, die vom heimischen Ökobalkon in Wien über die oben bereits genannte Michigan Urban Farming Initiative und den Detroiter Traum von der größten Stadtfarm der Welt reichen. Aber all diese Entwicklungen machen Mut, wie erfindungsreich und neugierig Menschen mit den Herausforderungen unserer Zeit umgehen und nicht darauf warten, bis die eine perfekte Lösung gefunden ist, sondern einfach forschen, experimentieren, ausprobieren. Vielleicht werden unsere Nachfahren einmal über die Bäume auf Wolkenkratzern lachen, weil sie viel bessere Möglichkeiten kennen. Aber wie auch immer sie leben werden - die Weichen werden jetzt gestellt.

  • Unter dem Label "Zukunft" (s. unteres Menu) werde ich in diesem Blog regelmäßig Projekte und Ideen vorstellen, die unsere Gegenwart konstruktiv verändern könnten.
  • Die Beiträge sind zwar auch ohne Anklicken der Links lesbar, aber wie immer stecken hinter den Links nicht nur Worterklärungen, sondern reichlich Informationen und Hintergründe für all diejenigen, die sich intensiver mit dem Thema beschäftigen wollen.
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  • Mehr über die Gartenbaukunst im alten Mesopotamien kann man in meinem Buch über die Lieblingsblume der Menschheit nachlesen: Das Buch der Rose / Petra van Cronenburg

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