Lieber Agrikultur als Kultur?

Der Bürgermeister eines der Dörfer im Umkreis hat einmal vor einem Theaterverein einen in meinen Augen bezeichnenden Spruch getan, aus dem Brustton der Überzeugung. Bezeichnend deshalb, weil der Spruch eine bestimmte Geisteshaltung auf den Punkt bringt, unter der KünstlerInnen (und eine ganze Gesellschaft obendrein) geistig verhungern können: "Culture, das ist doch auch wieder nur eine moderne Form von Agriculture?" Nein, der Mann wollte damals keine philosophische Rede halten und auch nicht spaßen, er hält nach wie vor Kultur für überflüssig, Kunst sowieso. Ob er immer noch dem Dorf vorsteht, in dem sich auch im Sommer keiner auf die Bänke am Kirchplatz zu setzen wagt, weil man dann von allen anderen als "Nichtstuer" beschimpft würde, weiß ich nicht.


Planung über Kreuz - kein Stich ins Schwarze

Trotzdem und zum Glück gibt es auch in ländlichen Gebieten (noch) Kunst und Kultur zu erleben. So stand die vergangene Wochenhälfte im Nordelsass ganz unter dem Zeichen des Internationalen Kreuzstich- und Stickfestivals, das unter Insidern einen Namen hat. Menschen aus ganz Frankreich und anderen Ländern treffen sich dort. Und weil so etwas den Tourismus fördert und damit eine Region entwickeln kann, weil solche Leute Kunsthandwerk und Kunst mögen, hat man frühzeitig die KünstlerInnen der Region mit ihren offenen Ateliers eingebunden.

In diesem Jahr war alles anders: Kürzung des sonst über drei Wochenenden verteilten Festivals auf vier Tage, darunter Werktage. Die offenen Ateliers lediglich im viel zu spät und nur regional verteilten Prospekt erwähnt, die Aussteller nicht aktualisiert oder fehlend. PR für die Auswärtigen, die so aufs Web angewiesen wären ... ich räuspere mich jetzt nur. Immerhin gab es 2015 mal eine deutschsprachige Version. Dazu die Vollsperrung einer Hauptroute wegen Bauarbeiten nebst fehlenden Leit- und Hinweisschildern in den anderen Orten.

Kurzum: Wir wussten, dass es schwierig werden würde und versuchten, wenigstens die eigenen Kontakte zu aktivieren. Selbst die fanden teilweise nicht mal den Weg ... siehe fehlende Schilder in den Zentren. Dort standen die Schlangen am Einlass, dort hielten die Reisebusse. Wer dennoch zu uns fand, stöhnte nicht selten: "Nach der großen Ausstellung in den Hauptorten bin ich nur noch platt und müde. Und habe all mein Geld schon dort gelassen." Wir spürten das schmerzhaft. Aber ich habe bei meiner ersten Ausstellung eine Menge über falsches Zielpublikum gelernt und möchte hier eine augenzwinkernde Typenlehre bieten, die natürlich oft haarscharf am Vorurteil vorbeischrammt. Bewusst, denn die waren echt, ich schwöre!

Kleine Typenlehre für AusstellerInnen

Die Knipserle

Damit auch die abgelegeneren Orte Publikum abbekamen, hatten sich die Organisatoren eine Tombola ausgedacht: Wer sich auf einer Karte mindestens sieben Plätze abknipsen ließ, konnte teilnehmen und ein Stickset gewinnen. Der Einfallsreichtum beim Publikum war immens: Manche kamen zum Knipsen und liefen wenigstens anstandshalber im Laufschritt durch die Ausstellungsräume, um gleich zum nächsten Knips weiterzuhasten. Die Vorwitzigen machten aus, wo das Knipserle versteckt war und bedienten sich gleich selbst. Den gemeinen Homo Knipserle kann man übrigens sehr leicht am schweifenden, gehetzten Blick erkennen. Es ist die Sorte Mensch, die bei der historischen Stadtführung zuerst nach dem Biergarten sucht. Als dann die Dame mit zehn Karten in der Hand vor mir stand, ist mir der Geduldsfaden gerissen. "Können Sie sich bitte verbreitern?", fragte ich sie. Indigniertes Starren ihrerseits, sie war schon recht breit: "Wieso!?" - "Nun ja, für zehn Personen sind Sie mir einfach zu dünn, beweisen Sie mir, dass sie mehr sind, ja?" Sie schnaubte von dannen. Wahrscheinlich zu den Freundinnen, die sie im Kreis herumgeschickt hatten.

Die ewigen Kinder

Erkennbar am eher fortgeschrittenen Alter und an ihren Sprüchen:
"Erna, fotografier mer des Bild mit dem Farbgespritz! Des kann ich daheim selber, bloss so Farbfleckzeugs. Und dafür wollen die auch noch Geld!"
"Oh, Papierschmuck, des hab ich als Kind in der Schule auch immer gemacht, kinderleicht!"
"Sie drehen Perlen aus Papier? Das macht man doch in der Vorschule? Das wollen Sie verkaufen?"
"Guck mal, auf dem Bild kann man gar nichts erkennen. Da können wir ja gleich kleine Kinder malen lassen."

Die Schmuckveganer

Kamen ausschließlich aus Deutschland. Eher Städter als Dörfler.
"Sie töten Pilze für Schmuck!? Pilze sind Lebewesen!"
Ich erkläre freundlich, dass das Myzel weiterlebt, der Fruchtkörper, den man erntet, jedoch sowieso absterben würde. Dass Pilze trotzdem keine Tiere sind, verkneife ich mir zu sagen. Stattdessen betone ich, dass diese Pilze garantiert eines natürlichen Todes im hohen Alter stürben und von mir nicht gequält würden.
Dann eine Frau mit gierigen Blicken auf eine Schamanenkette in Grün und Weiß. Ich werde frech und erkläre die Materialien, auch die handgravierten Knochenperlen.
Die Frau kreischt fast: "Knochen, igitt! Knochen von Tieren!??" Alle Leute im Raum drehen sich um.
Ich überlege kurz, ob es auch andere Knochen gibt, und entgegne breit lächelnd: "Naja, was mein Hund so übrig lässt. Soll ich das in den Mülleimer werfen? Upcycling, gelebter Umweltschutz!"
Die Elsässer, die den Dialog verstehen, glucksen schon, die Touristin ist jetzt auf 180: "Das ist eine absolute Schweinerei! Sowas kommt mir nicht an den Hals! Heutzutage kann man doch wirklich so viel Verantwortung zeigen, dass man veganen Schmuck macht. Igittigitt!"
Ich glaube, sie hätte mich in dem Moment am liebsten Mörderin gerufen. Sie nahm aber rechtzeitig wahr, dass die Umstehenden nicht über mich lachten. Zu gern hätte ich ihr nachgerufen, dass ich riesiges Vergnügen daran hätte, Bücher zu quälen, wenn ich deren Torso aufreiße und ihnen die Rippen einzeln herausbreche. Hoffentlich hat sie kein Gemälde mit Eitempera gekauft. Und warum wollte sie überhaupt eine Kette von mir an den Hals?

Die Kopisten

Früher hat man diese Spezies bei karger Kost im Kloster eingesperrt. Heute kommen sie mit dem Fotoapparat oder Smartphone und wollen auf jedes einzelne Bild, jedes einzelne Schmuckstück draufhalten. Immer mit dem flotten Spruch auf den Lippen "Das können wir dann selbst". Eine von dieser Sorte hat schon im vergangenen Jahr eine Schöpfung einer anwesenden Künstlerin kopiert und macht nun Reibach damit. Als wir einem besonders dreisten Exemplar freundlich sagen, sie müsse vorher die Künstler um Erlaubnis fragen, wird sie patzig: "Das ist doch nicht unser Problem, dann müssen die Künstler das sichtbar verbieten!" Kein Rechtsbewusstsein, auch wenn wir solchen Leuten das Urheberrecht erklären. Also gibt's das große Schild "Fotografieren verboten", welches das Publikum sichtbar ausdünnt. Der ideale Rauswurfsatz für Kopisten: "Die Technik ist geheim." Nur wegen dieser schwarzen Schafe müssen wir uns bei den netten Menschen entschuldigen. Denn selbstverständlich lassen wir all die fotografieren, die nur ein Andenkenfoto mit Freundinnen wollen oder die sich ein Stück fotografieren, weil sie es später kaufen möchten. Letztere erkennt man übrigens am persönlichen Gespräch und an der Mitnahme der Visitenkarte. Und wer uns freundlich vorher fragt, darf auch.

Die Übergriffigen

Eine besonders fiese Sorte Mensch sucht trotz optischer Absperrung den Weg vom Atelier in die Privatwohnung, scheut nichts und niemanden und kundschaftet dort emsig überall herum. Als das Paar lautstark und vernehmlich vor allen Besuchern aus der Privatwohnung gejagt wird, hat der Knilch nur ein fieses, mieses kleines Grinsen im Gesicht, die unverschämte Tussi neben ihm zeigt kein bißchen Reue. Leute, die Odile hat gepetzt, wer ihr seid. Ihr seid dafür bekannt, dass ihr weder Hemmungen, noch Benehmen, noch Grenzen kennt und das öfter so macht, bei anderen einzusteigen und herumzuschnarchen. Beim nächsten Einbruch im Dorf bekommt ihr deshalb Besuch von der Gendarmerie.

Die Weitsichtigen

Ich gehöre wie viele Menschen fortgeschritteneren Alters selbst zu den Leuten, die in Museen die Brille wechseln müssen - für kleine Dinge in der Nähe brauche ich eine Lesebrille. Spannend darum für mich zu erleben, wie viele Menschen zu einem Kreuzstichfestival anreisen und die Lesebrille vergessen! Was die wohl bei den Stickerinnen gesehen haben? Es waren wirklich reihenweise Menschen, die man an der Geschwindigkeit und dem flüchtigen Blick erkannte. Besonders herzig die Szene, als sich eine Frau von mir unterschiedliche Perlen erklären lässt. Als ich ihr japanische Glaskunst zeige, wo winzige Perlen noch zusätzlich bemalt werden, schaut sie mich mit großen runden Augen an und fragt: "Wo sind da Perlen?" Meine 3-cm-Perlen sind die einzigen, die sie als solche erkennt.

Die Kultivierten

Es kamen zum Glück auch einige von dieser Sorte. Man erkennt sie an der Aufmerksamkeit, am Interesse. Ihre Karte lassen sie erst zum Schluss abknipsen. Sie halten vor einzelnen Werken und laufen auch mal wieder zurück, um sich etwas intensiver zu betrachten. Sie reden miteinander über das, was sie sehen. Sind auch einem Gespräch mit den KünstlerInnen nicht abgeneigt. Stellen interessante Fragen. Nehmen Karten mit, um sich KünstlerInnen zu merken. Und manche von ihnen kaufen vielleicht sogar etwas. Selbst wenn nicht: Sie zeigen Wertschätzung. Sie haben Achtung vor dem Handwerk anderer und der immensen, oft unsichtbaren Arbeit, die hinter einem Kunstwerk steckt. Sie müssen nicht einmal sehr viel Bildung haben, müssen keine Kunstkenner sein. Alles, was sie brauchen, ist Neugier, Offenheit und Wertschätzung. Solches Publikum schätzen auch wir KünstlerInnen!

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