Leidenschaftlich farbig - ein Gesamtkunstwerk

Eigentlich will ich ein besonderes Buch rezensieren. Aber das funktioniert nicht, ohne etwas über die Frau zu erzählen, die hinter dem Projekt steht. Anders zu erzählen, als es in den üblichen Kurzbiografien vorgesehen ist. Als ich das gestern versuchte, verschwand der Beitrag unabgespeichert im Datennirwhana. Also fange ich heute vielleicht ... ganz am Anfang an?

Das Geschlecht kann bei solchen Anleitungen keine Ausrede mehr sein. Das macht sogar Leuten Lust, die Knöpfe am liebsten ankleben würden.

Begegnet bin ich der schweizerischen Bayerin (oder umgekehrt?) Sylvia Richard-Färber zum ersten Mal auf Facebook und inzwischen auch via Skype. Und kann versichern: Die Frau ist im Leben genauso leidenschaftlich und farbig wie im Internet! Wer Farben nicht gewohnt ist, kann durchaus auf den ersten Blick einen Overflow bekommen - für mich dagegen bedeuten diese Farben Lebensfreude. Ob die Künstlerin von ihren Unfugsnasen erzählt, eine Wand in ihrer Wohnung gestaltet oder sich schnell mal umzieht, ob sie singt, rezitiert oder in Knopfschachteln wühlt, das erscheint alles faszinierend wie aus einem Guss und eins ist ohne das andere kaum denkbar. Manchmal versuche ich herauszufinden, was zuerst da war: eine Melodie, ein Muster oder eine Geschichte, die sie mit herrlich "farbigen" Fantasiewörtern erzählt. Als Synästhesistin falle ich bei Sylvia Richard-Färber ins Gegenteil eines Lochs. Da vibrieren sämtliche Sinnesverknüpfungen, als sei ich in einen Ameisenhaufen gefallen, in dem die Tierchen eine Symphonie aus Düften spielen. Weil ich für diesen Esprit keine beschreibenden Worte finde, nenne ich sie frech ein lebendes Gesamtkunstwerk im besten Wagner'schen Sinne.

Als ich das bemerkte, hatte sie mich längst am Haken. Genau diese Idee vom Gesamtkunstwerk hat der von mir bewunderte Sergej Diaghilew für die Ballets Russes zwischen 1909 und 1929 mit so viel Verve aufgebaut: die Durchdringung möglichst aller Künste im Dienste eines Sujets oder Lebenswerks, verkörpert auch in Personen. Mit der "Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität", wie es der Philosoph Odo Marquard einmal formulierte. Ein Traum und Lebenskonzept auch von mir, selbst wenn der Traum natürlich sehr hoch hängt.

Man kann das alles natürlich sachlicher ausdrücken, wie es in der Biografie auf ihrem Blog ausführlich nachzulesen ist. Sylvia Richard-Färber hat Gesang und Musik studiert, Schauspielunterricht genommen. Sie war als Opern- und Konzertsängerin unterwegs. Neben ihren Konzerten hat sie sich einen Namen in der Leitung von Meisterklassen gemacht und ab 1981 zusätzlich als bildende Künstlerin gearbeitet. Auch hier sprudelt sie wieder in mehrere Richtungen: Ausstellungen in Deutschland und Frankreich, Aufbau und Leitung einer Jugendkunstschule, einer Kulturwerkstatt. Der nächste Schwenk geht in Richtung Schreiben - für ein Hörbuch, für die Bühne, für ein eigenes Buch. Wie sie dann noch Zeit fand (neben Familie, Katzen und Hunden), ihren "Maxlrieder Zaubergarten" und das Haus zu einem Kunstwerk umzugestalten, ist mir persönlich rätselhaft. Ich kann es mir nur so erklären, dass da irgendwelche Inspirationsmoleküle aus dem recht nahen Murnau zu ihr herüberwabern, wo es im Haus des Blauen Reiters ähnlich wild und farbig zugegangen sein muss. Heinzelmännchen könnten auch mit im Spiel sein.

Diese Frau also schreibt ein Buch. Gründet einen Verlag, um sich die entsprechenden Fachfrauen heranzuholen. Es soll ein Anleitungsbuch zum Nähen werden, für Anfängerinnen. Zuerst musste ich schmunzeln. Ich bin ein Nähdepp, weil meine Mutter, von Beruf Schneiderin, mir zeitlebens ihre Nähmaschine verboten hat. Irgendwann habe ich mir einmal beigebracht, auf einem billigen polnischen Gerät einigermaßen geradeaus zu nähen, weil ich Gardinen brauchte. Ich bastle jedoch gerne - und würde es nach mir gehen, könnte man Kleider einfach zusammenkleben.

Wild, bunt und anregend sogar dann, wenn jemand überhaupt nicht nähen will!
Ich sei prädestiniert für das Buch, sagte Sylvia Richard-Färber, denn "Leicht Nähen lernen" richte sich speziell an ungeduldige Anfänger. Also diese Leute wie ich, die sich wünschen, Stoff käme von Klebstoff. Aber eigentlich sei das alles in eine Graphic Novel verpackt.

Weil ich in einem Land lebe, in dem man statt Graphic Novel auch Comic sagen darf und beides eine eigene, hochgeachtete Kunstform ist, war ich gespannt. Als ich das Buch in Händen hielt, war ich platt. "Graphic Novel" kann nur der unbeholfene Versuch sein, ein Phänomen auf den Punkt zu bringen, das ich vom Buchmarkt her so noch nicht kenne: Das Buch ist Anleitungsbuch und Wissenskiste genauso wie Sammlerstück und Kunstbuch, es besteht aus Comic-Sprechblasen in buntem Handlettering und Collagen aus Fotos und Handnotizen. Da ist keine Seite gleich, alles scheint zu quirlen und zu leuchten - und man merkt den 76 Seiten im Broschürenformat an, wie viel Arbeit und vor allem Konzeption dahintersteckt. "Leicht Nähen lernen" ist per se ein kleines Kunstwerk wie aus einem Guss, in all seiner Wildheit harmonisch. Gestaltung und Druck sind einwandfrei.

Wer noch etwas von Pippi Langstrumpf in sich hat, möchte sich das glatt an die Wand hängen als Motto.
Und der Inhalt? Der ist gefährlich. Alles so schön einfach: Stulpen, Haarbändiger (oder Hirnbändiger, wie sie die Autorin nennt), Loopschals und Clutches soll man damit machen können. Ich selbst habe gar nicht lange überlegt und fand mich plötzlich mit der Schneiderschere wieder: Aus alten Spitzenstrümpfen müssten sich doch Stulpen nähen lassen? Ein paar bunte Perlen dazu und schöne Borte? Zu dem Zeitpunkt hatte ich erst den Anfang durchgeblättert und war schon heiß darauf, selbst einmal wild und ungeduldig zu werkeln. Abends oder an grauen Tagen überkommt es mich heute immer noch: Ich blättere ein paar Seiten durchs Buch, sauge die klaren Buntstiftfarben vor Spitzenhintergrund auf, schwelge in den Wimmelbildern aus Mustern und Dingen und tauche dann wieder in einem Bild ein, das man sich sofort an die Wand hängen möchte. Muss ich noch sagen, dass die Anleitungen auch funktionieren, man aber selbst auf noch viel mehr Ideen kommt?

Das ist nämlich das Gefährliche: Die Färberin steckt mit ihrem Buch an, macht Mut, stachelt auf. Ich kann das jetzt laut sagen: Sie hat mich nur kurzzeitig zum Nähen gebracht. Mir kam dann jedoch schnell wieder der Gedanke an den Klebstoff. Und so habe ich mich von ihr und ihrem Buch anstecken lassen zu meinem Atelierprojekt mit dem Schmuck, habe den Mut gefunden, mich hineinzustürzen, obwohl gefühlt eine Million Menschen genau das Gleiche machen. Denn auch das ist eine Botschaft ihrer "Wahnsinn! Das kannst du auch ..."-Reihe: Du kannst das, weil du einzigartig bist. Mögen eine Million Menschen scheinbar das Gleiche machen, jeder einzelne von ihnen hat die Möglichkeit, zu seinem "eigenen Ding" zu finden. Etwas völlig Unverwechselbares zu erschaffen, das einfach glücklich macht und der Welt etwas mhr Schönheit schenkt.
Und da bin ich bei den Nachwirkungen dieses Buchs: Sylvia Richard-Färber hat erfindungsreich eine Leserunde bei Lovelybooks "zweckentfremdet", um nicht einfach nur brav miteinander ein Buch zu lesen, sondern ihre Leserinnen und Leser selbst nähen zu lassen, zusätzlich vernetzt mit Whatsapp und Social Media. Unter dem Hashtag #rondoKREATIVO und im gleichnamigen Blog (s.u.) stellt sie die oft verblüffend schönen Werke ins Netz, teilweise von sehr jungen Leuten und blutigen NähanfängerInnen. Und wer möchte, kann die künstlerische Nähwerkstatt auch live erleben, sich in den Verein oder andere Veranstaltungshäuser holen (Anleitung, wie das geht).

Es lohnt sich - denke ich - sehr, denn Sylvia Richard-Färber hat ein erstaunliches Talent, einem die eigenen Stärken sichtbar zu machen und herauszukitzeln, bis man auch entspannt mit den Schwächen umgehen kann. Statt wie in anderen Anleitungsbüchern vorzuschreiben, was man zu tun hat oder wie das denn nun wirklich zu machen sei, kommt sie gleich am Anfang mit einem "zickzacklinienlustigen Fadenbild". Sprich, die blutige Anfängerin darf auf ihrer Nähmaschine erst einmal wild Gas geben und in den Kurven bremsen lernen, Stiche dehnen und stauchen und wild herumbrummen. Die LeserInnen haben aus dieser Idee lustig bunte Taschen gestaltet! Für mich persönlich ist sie weit über das Buch hinaus Inspiration und Vorbild, Anstifterin und Mutmacherin.
Wimmelbilder zum Spazierengehen. Und irgendwann findet man dann auch die freche Unfugsnase.

"Leicht Nähen lernen für ungeduldige Anfänger" aus der Reihe "Wahnsinn! Das kannst du auch" gibt es in ausgewählten Buchhandlungen (ISBN 978-3-945320-09-9), bei Amazon und direkt über den Färber-Verlag

Als hätte ihr Tag keine 24 Stunden wie bei unsereins - die Färberin ist hier virtuell aktiv:

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Ich bedanke mich beim Färberverlag für die Grafiken. Das Buch habe ich übrigens unabhängig besprochen, aus eigenem Antrieb. Die Färberin weiß noch nicht, was sie hier erwartet ...

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