Parallelwelt Bastelkosmos

Ich war weggetreten. Zwischen Atelier und Youtube habe ich gelernt und probiert. Meine Lehrerinnen und Lehrer sitzen in abgelegenen Bundesstaaten der USA und in Indien, in Malaysia oder England, in Afrika und Russland. Ich stelle fest, dass es noch eine Menge Sprachen gibt, die ich leider nicht verstehe - aber zumindest englische Untertitel halten oft die Welt zusammen und in Afrika ist es Französisch. Wofür ich mich interessiere, dafür braucht man nur Hände und Füße, im wahrsten Sinne des Wortes.

Alte Bücher, neue Comics - noch sieht das nach nichts aus, aber bald ...

Was ich lerne, hat mit einem neuen Standbein zu tun, das ich aufbauen möchte, weil Texterhonorare sich immer öfter derart dem Abartigen annähern. Ich bin zu alt, um mich beim Centfeilschen zu ärgern und Arbeit soll sich wenigstens sinnvoll anfühlen. Sicher war es kein Zufall, dass ich im behördlich in engsten Schubladen denkenden Frankreich meine Firma "Tetebrec - Atelier für Erzählkunst und Kommunikation nannte". Denn in einem "Atelier" darf man so ziemlich alles treiben, ohne gleich wieder in einen neuen Beruf gesteckt zu werden. Also lerne ich, lasse meine Fantasie frei treiben, arbeite an Prototypen - bevor es in einen Dawanda-Shop gehen wird. Schmuck von Tetebrec aus Frankreich. So hat das auch angefangen: Vor bestimmt 25 Jahren "bastelte" ich ein wildes Stück aus Fimo, Edelsteinen, Elektronikteilen und Metall und nannte das "Kommunikation". Gezeichnet mit "Tetebrec". Nicht nur, weil das fast bretonisch klang und ich im Geiste einen aufbrechenden Kopf (tête) vor mir sah. Mich faszinierte die Geschichte dahinter. So hieß das Haus, in dem der irische Held Cuchulainn ein ganzes Jahr lang - in die Feenwelt entrückt - scheinbar schlief. Funkeln, Schatz, Glitzern, Waffenkammer - all das steckt im Namen des Hauses. Wir wissen ja, dass der Feenschlaf mit Fantasie zu tun hat, mit der Anderswelt, in der auch die Zeit anders vergeht. Das war mein Ding!

Wenn sich Kreise schließen, so ist das oft ein gutes Zeichen. Dafür, dass etwas funktioniert. Oder dafür, dass man ganz bei sich ist. Das war ich in den letzten Tagen zunächst gar nicht. Jedes Schmuckstück, das ich entwarf, erschien mir so austauschbar. Und nichts ist schlimmer als die Nachahmerei in Zeiten des Internet! Eine Kollegin, mit der ich regelmäßig inspirative Gespräche führe, brachte mich drauf: "Denk mal an Papier!"

Madame übt - Prototypen entstehen, Techniken werden ausprobiert. Die ersten Papierperlen trocknen, bevor sie noch ein paarmal versiegelt und dann lackiert werden.
Weil ich nicht der Typ bin, der sich in Workshops und Unterricht lange den Hintern platt sitzt, habe ich gegoogelt und bin in die Welt der Tutorials versunken. Bisher kannte ich die Szene eher aus dem technischen Bereich - wenn ich wissen will, wie man einen Syphon abschraubt, weil der Abfluss verstopft ist, oder wie man die Biosbatterie in einem Laptop eines bestimmten Fabrikats findet und wechselt. Youtube ist inzwischen zu einer gigantischen Wissensmaschine geworden. Und zu einem kollektiven Gedächtnis der Menschheit. Wenn man heutzutage die Eltern fragt, wissen die auch nicht mehr, wie etwas funktioniert oder warum etwas so ist und nicht anders. Allgemeinwissen hat längst seinen Stellenwert verloren. Wie soll man sich auch alles merken können, wo doch das Wissen exponential wächst? Im Internet habe ich den Zugang.

Basteltutorials sind eine bunte Welt für sich. Der Professionalisierungsgrad ist immens, manche haben eigene TV-Kanäle. Bei anderen fühlt man sich wie beim Kaffeekränzchen. Aber der Erfolg steigt mit dem Charme der Darsteller. Da ist diese Amerikanerin, die ungeheuer viel weiß und zeigt, aber wenn sie mich so hyperaktiv-superfröhlich begrüßt, dass mir vor Schreck der Kaffee aus der Tasse schwappt, dann schalte ich um. Nach zwei Begrüßungen dieser Frau fühlte ich mich deprimiert, weil ich nicht auf dieses Sprachknödel-Level komme, wenn ich nicht mindestens 5 Tassen Mokka zuviel getrunken habe. Lieber ist mir die Frau mit der Bohrmaschine, die mich aus ihrer Werkstatt heraus begrüßt. Dann ist da der Kunstlehrer, den ich zwischendrin immer vorspulen muss, weil er jedes Finkeldipfelchen genauestens erklärt, aber er zeigt Sorgfalt und Technik und man kann das nachher auch. Es ist klar: Was so professionell im anglo-amerikanischen Raum gezeigt wird, findet Tausende (Millionen?) NachahmerInnen. In Indien machen sie sowas aber auch. Ich verstehe kein Wort, kann aber den Bildern folgen und stelle fest: Diese Sprache klingt tatsächlich wie indische Musik, schwingt in einem ganz eigenen Rhythmus. Noch ursprünglicher werden die Vorlagen in Malaysia und ich staune, wie fingerfertig man Dinge ohne Hilfsmittel herstellen kann, für die Amerikaner extra Maschinen erfnden.

Das ist ein spannender Aspekt dieser Videoreise: Wie verwöhnt sind wir doch, machen aus dem Einfachsten einen Hype und überlegen, welche Folgeprodukte sich damit verkaufen lassen. Ursprünglich stammt jedoch die Idee, aus Papier Schmuck zu machen, aus den Entwicklungsländern. Es ist ein altes Handwerk der "Müllkultur": Kinder sammeln von wilden Müllhalden, auf denen nicht zufällig auch Abfall aus den Industriestaaten landet, alles, was verwertbar ist. Dann dient der eigene Körper als Werkbank - in einer Weise, dass es unseren verwöhnten Augen schon fast wehtut, wie bei diesem Tuareg aus Niger. Völlig unerschrocken geht auch dieser Afrikaner mit seinem Fuß um und zeigt dabei eine Fingerfertigkeit, dass ich mir vorkomme, als hätte ich zehn Wurstfinger. In Russland erfahre ich, dass gute Ideen, wie sie unsere Großmütter hatten, von Mangelgesellschaften beschleunigt werden: Gute Ideen kosten nichts - und das nennt man dann Life Hack. Es gibt aber auch Meisterklassen online!

Wer sich so durch die Bastelanleitungen der Welt wühlt, bekommt ein anderes Gespür für die Materie. Ich stelle fest: Hier geht es nicht nur um den Unterhalt und Schönheit oder Kunst, sondern auch um eine innere Haltung, nichts verkommen zu lassen und aus dem sinnlosesten Stück "Müll" etwas Hübsches oder Nützliches zu schaffen. Es geht um Achtsamkeit gegenüber Materialien und um Recycling, das mehr ist als Rohstoffumwandlung. Da findet außerdem ein globaler Austausch statt, den es zu Zeiten meiner Oma nicht gab, die noch reinen Traditionslinien folgte. Hochinteressant, wie unsere neuen Traditionen ihre Arme ausstrecken ... nach Afrika, nach Asien. Oder sind es Wurzeln, die sich verbreiten?

Das Gute liegt oft näher, als man denkt. Vor Jahren habe ich diesen Ocker aus einem uralten Ockersteinbruch geholt. Er ist in der Regel rotbraun, aber es gibt auch sehr hellen, gelblichen. Die Farben von Lascaux!
Ich werde achtsamer gegenüber meiner eigenen Recyclingtonne und schaue, was mir die Natur bietet. Plötzlich fällt mir der Beutel mit den Steinen wieder ein, die seit Jahren darauf warten, belebt zu werden. Es ist Ocker aus einem uralten Ockersteinbruch im Elsass, der dort wahrscheinlich schon in der Steinzeit gebrochen wurde. Was für ein Privileg, dass ich mir dort auch heute noch natürliche Pigmente beschaffen kann!

Mit den Händen zu arbeiten setzt bei mir völlig neue Hirnvernetzungen frei, die mir beim kretiven Arbeiten mit Text wunderbar helfen. Und plötzlich ist es geschehen. Der berühmte Klick zwischen dem Schreiben und dem Schmuck: das Medium Papier, alte kaputte Bücher, Farben, Leime. Ohne zu denken ... meine Hände machen sich selbstständig. Zerschneiden ein schlimm mitgenommens Comic-Heft und gehen auf Pirsch in einem grauenhaften "Erbauungsbüchlein" aus dem 19. Jahrhundert, das ich aus dem Müll rettete, weil ich kaputte Bücher gern zweckentfremde. Noch sieht das Ergebnis nach absolut nichts aus, aber das werden einmal Schmuckstücke werden. Text spricht mit Bild, neu mit alt und Comicfiguren verändern sich ganz wunderlich ...

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