Es ist sehr viel schöner als Fliegen!

"Schreiben ist Atmen. Bücher sind Leben", steht auf meinen Visitenkarten - den Spruch habe ich mir übrigens in Anlehnung an Nijinskys Bemerkungen über das Tanzen ausgedacht. Und obwohl ich im Moment wegen einer angeschlagenen Stimme fleißig Atemübungen mache und dämliche Schauspielsprechübungen dazu, wollte das mit dem Atmen irgendwie nicht gelingen. Natürlich schreibe ich den ganzen Tag (und manchmal auch nachts). Aber nicht DAS. Nicht das EINE. Die meisten KollegInnen werden es kennen: Es gibt diese Bücher, die man nach Auftrag oder weil man das Thema gerade gut findet, einigermaßen gelassen und ordentlich schreibt. Es ist eben nicht nur Atmen, sondern oft auch nur ein stinknormaler Beruf mit allen Höhen und Tiefen.

Und dann gibt es dieses ES. Das aus einem herausplatzt. Das man manchmal zu verhindern versucht wie eine neue Liebe, der man noch nicht ganz traut. Das einem manchmal auch Angst macht, weil es einen mit Haut und Haaren zu verschlingen droht oder zu viel zu fordern scheint. Da sitzen dann die inneren Zensoren auf der Vogelstange, einer fetter als der andere, und sie zwitschern einen schwach: Das verkaufst du nie! Für welchen Verlag soll das Geschwafel passen? Hast du nicht Vernünftigeres zu tun? Solltest du nicht gerade lieber Geld verdienen? Wäre es nicht angebrachter, jetzt einen handfesten Text zu übersetzen? Kannst du das überhaupt? Versuch's erst gar nicht, schau dir die Texte deiner berühmten KollegInnen an und such dir lieber einen ordentlichen Beruf! Hast du nicht eigentlich überhaupt keine Zeit dazu? Diese Liste lässt sich endlos fortsetzen: Gründe, ein Manuskript nicht zu verfassen, gibt es unzählige.

Der schlimmste Grund ist der, wenn das Manuskript vorn und hinten nicht funktionieren will, obwohl es einen gepackt hat. Ich berichtete von meinem "Ewigen Machwerk", mit dem ich sogar hochoffiziell den Wunsch begraben hatte, je wieder einen Roman schreiben zu wollen. Das hatte auch einen anderen Grund - die einzigen beiden Romane, die ich vor Jahren geschrieben hatte, waren ein Zugeständnis an Verlagswünsche gewesen. Sie waren von mir und doch nicht richtig von mir. Für das, was mir am Herzen lag, hätte ich damals nie einen Vertrag bekommen. Und diese Selbstverleugnung wollte ich mir nicht mehr antun müssen.

Anfang des Monats ist es dann passiert. In einer Situation, in der kein vernünftiger Mensch ans Schreiben denkt, geschweige denn die Zeit oder Energie dazu aufbringt, hatte ich das berühmte Heureka-Ereignis. Plötzlich stand mir mein "Machwerk" völlig lebendig vor Augen und alle inneren Zensoren hatten sich verkrümelt. Die Lösung für die Figuren wie die Dramaturgie, das eigentliche Thema ... die war so einfach wie kompliziert: In den Müll mit zehn Jahren vergeblicher Arbeit! Noch einmal ein völliger Neustart mit einer außergewöhnlichen Idee ...

Alles ist neu. Ich bin jetzt erst einmal ein Mann, d.h. ich muss mich in eine männliche Figur hineindenken. Im wahren Leben werde ich also ziemlich oft die Männer in meinem Bekanntenkreis damit nerven, die eine oder andere Gefühlsregung oder Handlung meines Protagonisten auf Stimmigkeit zu überprüfen. Der lebt im Hier und Jetzt, ist von Beruf ausgerechnet Gärtner (das wollte er, nicht ich) und fällt gerade aus allen Wolken. Die seltsame Frau aus der Urfassung ist auch noch da, zumindest ihr Name. Aber sie wurde von mir in der Zeitmaschine verwurstet, erlebt das beginnende 20. Jahrhundert in Paris und ähnelt immer wieder einem spektakulären Fall aus den 1920er Jahren in den USA. Nein, kein historischer Roman, und ich weiß auch noch nicht genau, wohin mich meine Figuren führen werden. Ich muss mir ja jetzt erst einmal Mühe geben, zwei so unterschiedliche Zeitebenen zu verknüpfen!

Aber alle Theorie ist grau. Vorrecherchen waren nötig. Das Ganze musste sich erst setzen. Vorhin ist es explodiert. In die Tasten hinein. Die ersten zwei Seiten lesen sich so gut (das behaupte ich von meinen Texten extrem selten), wie sich Seiten lesen, an denen man zehn Jahre lang gearbeitet hat. Das fließt mit einer Leichtigkeit, die trunken macht und mich gleich zum Weiterschreiben drängen wird. Nein, ich habe keine Zeit für diesen Roman, vernünftig ist es auch nicht, ausgerechnet jetzt damit zu beginnen. Aber wenn man täglich nur eine einzige Seite schreibt, sind das im Jahr auch 365 Seiten!

Ich atme wieder. Und fühle Vaslav Nijinsky so sehr nach, wie es ist, wenn man einfach tanzen muss, weil man nicht anders kann. Weil Atmen Leben ist. Und Schreiben manchmal beides.

PS: Sollte ich mein Manuskript wider Erwarten in die Schublade zurückstopfen, möge man mir diesen Beitrag hier bitte um die Ohren hauen!

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