Betäubung und Neugier

Lange habe ich gezögert, ob ich das Buch kaufen soll. Ein Roman so frisch vom Operationstisch ist nicht zu jedem Zeitpunkt ein leckeres Thema. Und dabei suchte ich nach erlebtem Hundetod Bücher, in denen über das Leben und den Tod nachgedacht wurde. Sofort habe ich mich an der Kindle-Leseprobe von Anna Enquists Roman "Die Betäubung" festgefressen und das gedruckte Buch beim Buchhändler bestellt (Rezension im DLR). Bei mir ein Zeichen für: "Das will ich körperlich und länger besitzen, das ist es wert."

Ich habe es nicht bereut. Das Buch, bei dem man fast filmisch in OP-Säle und hinter die Kulissen eines Krankenhauses schlüpft, lässt sich sogar lesen, wenn man Angst vor Ärzten hat: Fern jeder Sensations- oder Blutlust zeigt es nämlich sehr menschliche Gestalten auf allen Seiten, die mit Lebensbrüchen und Belastung fertig werden müssen. Es ist kein Krankenhausroman, sondern das Psychogramm einer Familie: Der Bruder hat seine Frau verloren, ist Psychoanalytiker und begibt sich auf die Suche nach einem Warum in den Untiefen eines besonders schwierigen Patienten. Die Schwester, eng verbunden mit der toten Schwägerin, tut, was sie immer macht: Sie sucht Halt in ihrem aufreibenden Beruf als Anästhesistin. Die Geschwister wären in einer Phase, in der andere Menschen trauern, aber sie schieben weg, verdrängen, suchen Halt an ihrer Arbeit - Arbeit, die Auswirkungen auf das Leben von Menschen hat, die ihnen schutzlos ausgeliefert werden. Zu spät registriert der Bruder sein Versagen an seinem Patienten - es kommt zur einer Katastrophe von der Wirkung einer Katarsis.

Aber das ist nur die vordergründige Geschichte, die einen spannenden Unterhaltungsroman abgeben würde. Anna Enquists Erzählen von der Betäubung wird zur Metapher für einen modernen Lebenszustand, legt die tödliche Stille hinter der permanenten Ablenkung bloß. Dass sich die Anästhesistin in ihrer Forschung auf rätselhafte Wachzustände während der Narkose verlegt, ist vielsagend: In diesem Roman ist nicht klar, wer in dieser Welt der Betäubtere ist: der narkotisierte Patient oder die Ärztin, die ihm die Maske auflegt. Ein höchst unterhaltsames Stück Literatur, das man nicht aus der Hand legt und über das man noch lange nachdenkt. Denn auch das Schlussbild ist ein einziger Paukenschlag, eine Metapher von schauriger Kraft. Was mich beeindruckt hat, war die tiefe Menschlichkeit in der Schilderung aller Beteiligter, der liebevolle Umgang der Autorin mit den Brüchen und Schwächen ihrer Figuren. Da steckt Lebenserfahrung dahinter und darum liest sich das Buch auch um so vieles authentischer als so mancher Tod-und-Leben-Roman von Jungautoren.

Ich will aber eigentlich keine Rezension schreiben. Was mich fasziniert hat: Die Autorin hat vor dem Verfassen des Romans an einem Programm teilgenommen, "Schriftsteller auf der Abteilung". Monatelang hat sie auf der Anästhesie Ärzte und Krankenschwestern bei ihrer Arbeit begleitet und interviewt. Auch das merkt man, das merkt man dem Buch sehr an. Keine theoretische Recherche kann solch Authentisches, eine solch dichte Atmosphäre zutage fördern.

Und da denke ich nach: Wann habe ich das letzte Mal etwas völlig Neues in meinem Leben gelernt und dabei andere Menschen zwecks Buchrecherche begleitet? Bei historischen Stoffen kann man sich ja so wunderbar herausreden, in Archiven verstauben zu müssen. Für die Arbeit an "Faszination Nijinsky" war ich auf Besuch in der Psychiatrischen und habe einen Psychiater interviewt. Aber kann ich aus der Moderne und heutigen Errungenschaften wirklich das Grauen von damals ableiten? Trotzdem waren das Eindrücke und Erfahrungen, die mir kein theoretisches Studium der Welt bieten kann. Für meine Romane habe ich mich einfach an der Fülle der eigenen Reisen, an Erfahrungen, Menschenbegegnungen bedient - in meinem Alter ist genug da für zehn Bücher. Und ja, ich habe unwahrscheinlich viel Neues gelernt in den letzten beiden Jahren: Wie man Bücher produziert, wie man E-Books macht ... und all das Fachchinesisch der Buchbranche.

Aber all das gehört zu meinem Beruf, ist nichts anderes als Weiterbildung. Es nimmt Zeit, macht aber nicht kreativer. Es entwickelt Herstellungsmöglichkeiten, aber keine Buchinhalte.

Anna Enquists Roman hat mich darum auch hungrig gemacht. Hungrig nach Welten, die ich noch nicht kenne. Ich bin neugierig auf Dinge, die in mir wieder dieses Feuer entfachen, von dem ich weiß: Das ist jetzt ein starker Stoff. Auf der anderen Seite frage ich mich: Braucht man dafür ein Stipendium? Genügt es nicht auch, mit offenen Sinnen und überbordender Neugier zu leben? Habe ich mich nicht auch ganz ohne Programm z.B. in russische Welten "eingelebt"? Ich merke, wie der Roman in mir nachwirkt. Ich frage mich doch tatsächlich, wie betäubt ich selbst eigentlich bin, ganz ohne Anästhesie. Ich liebe Bücher, die nach dem Lesen noch ein Eigenleben entwickeln!

Lesetipp:
Anna Enquist: Die Betäubung, Luchterhand Literaturverlag

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