Keine normale Lesung

Ziemlich hektisch ging es im Vorfeld meiner Nijinsky-Lesung zu, die heute abend in Baden-Baden stattfindet. Denn am Sonntag meinte die Veranstalterin, Fotos wären gut, mit dem Beamer an die Leinwand geworfen, damit man sich den Nijinsky auch noch ansehen könne. Nun bin ich nicht der Vortrags- und Konferenztyp, habe also noch nie einen Beamer in der Hand gehabt. Also Onkelchen gefragt, was man da wie und wo reinstopft und der klärte die Sache ganz lapidar. "Dein Laptop ist zu alt. Der hat die Anschlüsse nicht." Einen Anruf später nahte die Rettung: Ein Freund bringt seinen Laptop mit und macht das für mich, so muss ich mich nicht auf irgendwen Wildfremden verlassen und die Lesung wird bunt.

Für mich ist es keine normale Lesung. Als ich gestern die ausgewählten Stücke probte und die Fotos zu den Zwischenteilen ordnete, in denen ich frei erzählen werde, kamen mir tatsächlich selbst die Tränen vor Rührung. Ich hatte ganz vergessen, was für eine innige Beziehung man zu einer Figur aufbaut, mit der man sich jahrelang so intensiv beschäftigt. Besonders intensiv auch insofern, als es da um psychiatrische Krankenakten ging, um sehr viel Leid - und die eigenen Zugänge zur Kunst, die Fragen, die man sich selbst dabei stellt: Wie ernst nimmst du deine Kunst? Wann würdest du aufgeben, unter welchen Umständen weitermachen? Ich gebe zu, ich habe mit diesem Buch nur durchgehalten, weil ich mich frech mit Sergej Diaghilew identifizierte: Auch der hatte keinen Cent Geld, hat aber beharrlich versucht, seinen Traum auf die Bühne zu bringen. Und dann lief das auch. Ich habe mir selbst den ganz großen Kick damit verschafft, indem ich zur Unzeit mein letztes Geld für eine Opernkarte ausgab. Das Mariinsky-Theater mit Ausschnitten aus Boris Godunov, der Oper, mit der Diaghilew in Paris anfing. Es sollte ein Zeichen werden, Nijinsky hatte im Mariinsky begonnen.

Friedlich und still hat hier ein sonniger Feiertag begonnen. Außer in Deutschland feiert man das Ende der Naziherrschaft, den Sieg über das große Grauen. Mein Buch endet mit der dramatischen Befreiung Nijinskys durch die Rote Armee. Und es ist dieser Tag, den die Russen wegen der Zeitverschiebung erst einen Tag später feiern, an dem ich zum ersten Mal vor einem deutsch-russischen Publikum auftreten werde. In solchen Momenten geht mir die historische Dimension dessen auf, was ich mache. Wer hätte damals je gedacht, dass wir wieder - wie in Zeiten der Ballets Russes - an einem Tisch sitzen können und freundschaftlich an gemeinsamer Kultur arbeiten. Wir sind so privilegiert heute, haben so viele Chancen ... Das Ende meines Buchs liest sich an einem solchen Tag noch einmal ganz anders.

Zum heutigen Abend haben mich jene Opernkarte und mein Buch geführt, man könnte auch sagen, meine verrückten Schnapsideen. Weil ich auf absehbare Zeit nicht nach Sankt Petersburg konnte, dachte ich mir, wäre es doch ganz nett, Russen in Baden-Baden kennen zu lernen. Eine Idee, die mir in der Oper kam. Das Buch und eine Frau, die ich zufällig bei einer Lesung kennengelernt hatte, öffneten mir eine Tür und nun bin ich selbst aktives Mitglied in der Deutsch-Russischen Kulturgesellschaft. Klingt komisch, aber für mich war das wie Heimkommen. Diese Gesellschaft ist die Veranstalterin des Abends - vor über einem Jahr hätte ich noch jeden für verrückt erklärt, der mir davon erzählt hätte, was ich heute tue.

Natürlich bin ich aufgeregt, muss mich auch sehr stark konzentrieren, heute abend unbedingt langsam zu reden. In der Begeisterung fliegen mir die Worte zu schnell davon. Und ich hoffe, sie fliegen mir zu, denn zwischen den drei Leseteilen will ich frei erzählen, ohne Notizen. Eins weiß ich jetzt schon: Was ich heute verdiene, werde ich in eine Opernkarte investieren. Das Mariinsky kommt nämlich im Sommer wieder. Und diesmal geben sie den ganzen Boris Godunov. Soviel komische Zeichen müssen sein ...

4 Kommentare:

  1. Wie bist du eigentlich auf Nijinsky gekommen?

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  2. Lange Geschichte. Vordergründig hatte mich eine Verlegerin angesprochen, die ihr Herzensprojekt machen wollte und eine Autorin dafür suchte. Meine erste Reaktion: "Ich? Ich habe doch keine Ahnung von Ballett!" Nach dem ersten Einlesen dann hat mich Nijinsky "gebissen".

    Tiefgründig: Das Blau eines "Russenkleids" in meiner Kindheit, die Liebe zur russischen Sprache, dass ich mich schon in der Schulzeit in Kandinsky und die Farben des "Silbernen Zeitalters" verliebte, die russischen Komponisten, die ich mir ständig um die Ohren haue, darunter ein gewisser Herr Strawinsky ...

    Lebensthema trifft Herzensprojekt trifft "Zufall"?

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  3. Liebe Petra,
    ich wünsche dir einen schönen, erfolgreichen Abend bei der russischen Gesellschaft! Apropos:
    Ich hatte auch mal einen Russenkittel, selbst genäht ...

    Herzlichst
    Christa

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  4. Danke, Christa! Der Abend ist bereits gelaufen - und er war wohl für das Publikum wie für mich wundervoll!
    Herzlichst, Petra

    PS: Mein Kleid war ein Traum in Ballets-Russes-Blau (was ich erst seit heute weiß), auf Bündchen und Ärmeln und Saum handbestickt in Rot und Gelb, und was hab ich mich geärgert, dass ich das nur Sonntags anziehen durfte, wie damals üblich!

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