Ein Tag zum Bleiben?

War das ein Heidenspaß mit der Behörde vorhin! Behördengänge in Fremdsprache bereite ich wie ein Schauspiel vor. Ich denke mir mögliche Dialogverläufe aus, übe höfliches Zurechtweisen, stures Beharren und wütendes Auftrumpfen gleichermaßen. Man weiß ja nie - und will dann nicht überrumpelt herumstottern müssen. Einen besonders schönen Abgang hatte ich mir zurechtgelegt, falls alle Stricke reißen sollten und der Amtsschimmel laut wiehern würde. "Dann bleibt mir wohl nur noch, dieses Land sofort zu verlassen?!" - das hätte ich theatralisch, bis in den Warteraum hörbar, gedonnert. Begleitet von verzweifelten Gesten.

Als ich ankam, war nur ein Schalter besetzt. Im überfüllten Warteraum kochten Unmut, Aggression und Unverständnis. Wenn auf einer Behörde nichts läuft, werden die Opfer zu Verbündeten. Wenn keiner ein Ohr für einen hat, erzählt man seine Lebensgeschichte den Mitleidenden. Diese "Plots" in ein paar Sätzen, die ganze Familien ins Unglück stürzen können, wage ich für Romane kaum anzudenken. Da war die alleinerziehende Mutter, die ein halbes Jahr darum kämpfte, dass ihr Neugeborenes endlich behördlich erfasst wurde, die kämpfte, weil sie nach der Geburt operiert werden musste und auf den Kosten saß, weil sie frisch operiert sich nicht einmal eine Schwester oder Haushaltshilfe mehr leisten konnte. Und das alles nur, weil sie in einem anderen Krankenkassenbezirk arbeitete als wohnte, 15 Kilometer entfernt.

Da war die Familie, der man die Unterstützung für den Sohn gestrichen hatte, weil auf einem Schein seiner Uni ein anderes Wort stand als auf dem alten, und man ihm deshalb unterstellte, sein Studium abgebrochen zu haben. Da war die Frau, die seit vier Monaten immer wieder vorspricht, immer wieder abschlägige Bescheide bekommt, weil ihre Unterlagen fehlerhaft oder unvollständig seien, nur weil die Zentrale beim maschinellen Lesen Fehler macht. Wie unbedeutend war mein Problem dagegen. Auch mir wurde ja nur unterstellt, ich hätte mit den Unterlagen betrogen, weil die Zentrale nicht fähig war, sie richtig zu lesen! "Eine nationale Katastrophe!", rief eine Frau genervt durch den Raum und alle pflichteten ihr bei. Seit Sarkozy aus Spargründen eine einzige Zentrale fürs ganze Departement in Strasbourg eingerichtet hatte, war das so. Zombies würden dort arbeiten, meinte ein frustrierter Rentner.

Und dann nahmen sie mir meinen Auftritt einfach weg. Die erste Frau vor mir heulte am Schalter los: "Was soll ich denn tun, soll ich emigrieren aus diesem kaputten Land?" Die zweite Frau vor mir am Schalter wurde nach einer ellenlangen Diskussion plötzlich laut, man hörte etwas von "merde" und dann kam ein Ausruf: "Was raten Sie mir denn? Den Strick oder Auswandern? Ich weiß nicht mehr weiter, ich kann nicht mehr!" Das wäre eigentlich mein Text als Ausländerin gewesen. Aber wenn das schon bei den Einheimischen die letzte Verzweiflungswaffe war? Sie nickten mir zu und ermunterten mich, mir ja nichts gefallen zu lassen. Frankreich sei dabei, zu verdorren, da müsse man schauen, wo man bleibe. Das war noch der zivilste Spruch. Wäre ich Politiker gewesen, hätte mich dieser Warteraum mit Panik erfüllt.

Die Frau am Schalter hat mir dann im feinsten Amtsfranzösisch einen dringenden Appell per Direktmail in die Zentrale geschickt. Mit Schneckenpost geht nun mein gesamtes Dossier wieder nach Strasbourg. Identisch, wie es war. Weil es ja korrekt war. Die Bearbeitung würde wieder zwei Monate dauern, meinte sie in vollem Verständnis für meine Lage. Aber vielleicht hätten die ja auch ein Einsehen, weil sie es jetzt dringend gemacht habe. Und weil es identisch das bereits gelesene Dossier sei, fügte ich hinzu. Sie hat in den Brief geschrieben, ich müsse in kürzester Zeit operiert werden. Auf Behörden kann man das Lügen erst lernen.

Und das Verbrüdern. Auch das ist eine eigenartige Entwicklung im Land. Die Geschädigten rotten sich zumindest geistig bereits zusammen. Viele haben nichts mehr zu verlieren außer unnützen Sorgen und unverschuldeter Armut. Es hat fast wieder etwas Tröstliches, in so einem Warteraum zu sitzen. Irgendwann wird es so weit kommen, dass sie wieder wie früher die Flaschen kreisen lassen.

Auf der Heimfahrt kam mir ein erschreckender Gedanke. Ich war von Stolz erfüllt, wie ich es "denen" mal wieder gezeigt hatte. Ich war in Hochstimmung, weil ich recht behalten hatte und weil ich wieder in voller Stärke gegen Amtswillkür kämpfte. So wie alle anderen um mich herum. Ich hatte wieder dieses Feeling, das ich brauche, um beim Schreiben besonders genau hinzuschauen. Um die Psychologie von Figuren zeichnen zu können und deren innere Abgründe wirklich zu verstehen. Meine besten Texte habe ich in Ausnahmesituationen geschrieben, in denen ich theoretisch weder Kraft noch Muße zum Bücherschreiben gehabt habe. Meine Art von Humor, meinen Blick für Skurriles habe ich im Chaos von Systemumbrüchen geschärft, während die einen untergingen und sich die anderen bereicherten, in einem Umfeld der Extreme. Was war das für eine Welt gewesen, als der Eiserne Vorhang in Osteuropa fiel und keiner wusste, wohin einen das Leben führen würde. Es war hart, es war extrem, es war verrückt - und doch so lebendig, so überschäumend in der Kreativität.

Ich bin dann ziemlich erschrocken. Was würde eigentlich mit mir passieren, wenn ich tatsächlich in ein komfortables und wohlgeordnetes Land umziehen würde? Wenn ich in einem Umfeld leben würde, in dem man nicht um die einfachsten Selbstverständlichkeiten kämpfen muss? Könnte ich dann noch schreiben? Was für Texte würde ich produzieren, wenn ich satt und zufrieden wäre?

2 Kommentare:

  1. Ich schmeiß mich weg:

    Bürokratie, die Muse, die dich küsst und dir erst das Schreiben ermöglicht!

    In der Familientherapieausbildung nannte man das "Umdefinieren scheinbar unterträglicher Situationen"

    Gut machst Du das, Petra! :-)

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  2. Bruhahaha, genau das isses! ;-)

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