Eine Figur wird geboren

"Wie jedes Jahr vor dieser Szene entging sie dem Sog schräg gegenüber im Schlafzimmer, griff nach der dreikantigen Flasche, die sie im Kleiderschrank versteckt hatte. Der blauviolette Inhalt sah aus wie Medizin. Sie drehte mit aller Kraft, bis mit einem Knacken der Verschluss frei war, goss ein Cocktailglas halb voll mit Veilchenlikör und gönnte sich eine kleine Sünde, die so verrückt war wie dieser Film, wie die Tatsache, dass sie dieses Ritual schon im sechsten Jahr vollzog. So verrückt wie ihr Gefühl, im Leben zu schwimmen, ohne die Bahnen zu kennen. Ein kleiner Spritzer Sahne aus der mitgebrachten Dose, eine unschuldige Schauminsel im düsteren Meer.

Sie stieß die Zunge hinein, um sich zu verankern, um den Sog nicht mehr zu spüren, der Jahr um Jahr an ihr zerrte, stieß hindurch in das brennende Meer, bis der aufdringlich blumenscharfe Geschmack sie mahnte: Odile Redon, du schwelgst in den Freuden alter Jungfern! Kein normaler Mensch trank heute mehr puren Veilchenlikör, so wie niemand mehr Spitzentaschentücher mit Monogrammen bestickte. [...]

Sie nahm noch einen großen Schluck, der die Kehle hinuntersengte, goss nach, trank in einem Zug aus, weil der blumige Geschmack langsam an Raumbedufter erinnerte. Und weil die Zimmerdecke so schneller einem Sternenhimmel ähnelte. Die Möbel waberten, gaben ihr ein beruhigendes Gefühl, die Welt weichzeichnen zu können. John Lennon würde drüben noch eine Weile brauchen, bis er im Badewannenabfluss verschwand. Sie konnte die Stelle an den Rhythmen des Bildflackerns erkennen. Glas splitterte irgendwo. In diesem Film knackte, trommelte und sang es ständig, anarchisch wie er war, blödsinnig [...]

Der Lärm brandete wieder auf. Odile stellte Glas und Flasche ab und schlich ins dunkle Wohnzimmer zum Fenster. Sie hatte sich nicht verhört. Vorsichtig nahm sie die Gardine zurück und schaute durch den Spalt hinaus auf das, was zwei Stockwerke unter ihr brodelte. Mob. Der Abgrund in der Nebenstraße leuchtete schön wie die Sonne und schien schrecklich wie ein Blick in die Hölle. Sie hatten ein Auto vor dem leeren Nachbargrundstück in Brand gesetzt. Das Blau, das hinter ihr in unterschiedlichen Rhythmen an der Wand flackerte, kam von Gendarmerie und Feuerwehr. Immerhin kamen sie inzwischen rechtzeitig. Unwillkürlich dachte Odile an Bradbury’s „Fahrenheit 451“ und fragte sich, wann der Mob auch in die Häuser eindringen würde, ihr das Liebste nehmen: die gerahmten Erinnerungen an der Wand und die tausend Rückzugswelten in ihrer Bibliothek. Sie brandschatzten, johlten jetzt also nicht mehr nur in der Pariser Gegend. Wüteten jetzt auch bei ihr in der Provinz. Als sei die Zeit zerbrochen und die Wirklichkeit einem Science Fiction gewichen."
Petra van Cronenburg: Entwurf
 
Odilon Redon: Das Auge

Eine schlaflose Nacht, als sei Vollmond. Herumwälzen wie zwischen Welten. Und dann war sie plötzlich wieder da, klar und lebendig wie vor fünf Jahren schon einmal. Odile Redon mit ihrem Veilchenlikörtick. Sie hatte eine Menge zu erzählen, die Nacht verflog. Sie ging auch beim Frühstück nicht. Es war ihr egal, dass ich mir den Hals verspannt hatte beim unruhigen Liegen. Jetzt tappt sie unruhig mit dem Fuß neben mir und meint, sie wolle uns begleiten, mich und den Hund, beim Mittagslauf. Es brennt, sagt sie. Und ich müsse mich endlich von Vaslav Nijinsky lösen. Ob ich nicht bemerkt hätte, dass der Text nur noch aufs Setzen warte.

Ich bin noch nicht bereit. Nijinsky steckt mir so tief in den Poren, dass er mich ein Leben lang begleiten wird, fast zu nah bin ich ihm gekommen. Vor Odiles Nähe hatte ich immer schon ein wenig Angst. Nicht, weil sie heimlich Waffenzeitschriften liest und kleingeblümte Kleider trägt. Aber sie ist eine von den Aufrechten, die sogar in einer Schublade noch stehen und sich nicht umwerfen lassen. Sie hat damals etwas von mir gewollt, das ich ihr nicht geben konnte. Und jetzt sagt sie einfach nur: Es brennt.

3 Kommentare:

  1. Wunderbar!
    Eine Rebellin im Retro-Look.
    Herrlich, wie die Dame in ihrem kleinen Reich ihren intimen und altmodisch-geheimen Sünden schwelgt.

    Gruss Vega

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  2. Liebe Petra,

    »eine unschuldige Schauminsel im düsteren Meer« sind Deine Artikel nie - unschuldig meine ich.;)
    Odile würde ich sehr gerne kennenlernen und (wenn es sein muss) auch ein Gläschen Veilchenlikör mit ihr trinken. Eine Frau, die kleingeblümte Kleider trägt UND Waffenzeitschriften liest, lohnt es kennenzulernen!
    Und wenn solche Frauen sagen, dass es brennt, dann brennt es auch. Bestimmt wird sie Dir dabei helfen, Dich von Nijinsky zu lösen. Ich bin jedenfalls sehr gespannt darauf, was Odile sonst noch zu erzählen hat, auch wenn kein Vollmond ist.

    Liebe Grüße
    Nikola

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  3. Danke für die Blumen! Noch sind wir uns nicht ganz grün, die Odile und ich - da werden noch ein paar Kämpfe auszufechten sein. Ich will ihr nämlich einiges zumuten ... und sie ist mir gegenüber ziemlich spröde.

    Ich sollte nur langsam mal den Veilchenlikör wegwerfen, der aus Recherchezwecken immer noch hier steht. Das altmodische Gesöff war in Frankreich vor ein paar Jahren absolut hipp im Kir Royal statt Cassis. Irgendwie schmeckten die Brandnächte in Frankreich nach einer Überdosierung von dem Zeug.

    Und was Nijinsky betrifft - der wird noch genug in Sachen PR vorkommen und die Zeit der Avantgarde werde ich ganz bestimmt noch anders aufgreifen, im Sachbuch.
    Schöne Grüße,
    Petra

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