Myślenia między światami

Was für ein Tag! Ich lese in meinen bis zum letzten Jahr verschollenen Aufzeichnungen aus meiner Zeit in Polen - und gleichzeitig schmelzen gerade über 1000 Kilometer und fast fünfzehn Jahre. Man sollte nie die Öffentlichkeit mit Tagebuchaufzeichnungen belämmern. Aber dieses Fundstück sende ich jetzt für ein paar wundervolle Menschen auf direktem Weg nach Warschau ... (und natürlich für alle anderen, die in fremden Tagebüchern schmökern wollen). Wenn ich es jetzt wieder lese, sehe ich dabei Nijinsky in Petruschka...

Wendepunkt (Januar 1994)

Warschau, Hauptverkehrsader zum Kaufhaus Centrum: Das rote Glühbirnenmeer in den Alleebäumen verbreitet noch Ende Januar Weihnachtsstimmung à la Miami. Der abendliche Verkehrsstrom verstopft den großen Kreisverkehr.

Hast du das gesehen? Die bauen hier sogar nachts. Darf man hier etwa nicht mehr durch? So viele Lichter...

Die Handbewegungen der Frau in der Chaosmitte sind alles andere als eindeutig. Auf der Verkehrsinsel in der Mitte des Kreisverkehrs steht sie, in orangefarbener Stadtarbeiterkluft, mit grellem Schutzhelm auf dem Kopf. Monoton schwenkt sie die Arme, die Gesten weit ausholend und angestrengt, bewegt sich, als könne sie sich nicht entscheiden.

Will sie die Autos umleiten? Oder nur einen Kanaldeckel aufdrehen? Ein Loch womöglich in der Mitte einer Insel im Chaos...

Ein Autofahrer tastet nach der Bremse. Richtungsfragen. Unsicherheit. Wohin? Egal, nur immer weiter. Schau niemals zurück.

Alle blicken sie in das versteinerte und verschrumpelte Gesicht unter den wirren Haaren. Unter dem Schutzhelmgrell, über dem Anzugsorange schimmert sie wie die Straßenlampen gelblich. Vielleicht war die Frau einmal blond. Jetzt dirigiert sie weißhaarig und weißgesichtig, eine Insel in der Rush Hour, Leichenblässe in Grellorange. Monoton rudert und hebelt ihr rechter Arm, hackt winzige Zeitintervalle in die Luft. Der linke Arm taktet die zweite Stimme dazu. In puppenhafter Strenge rucken Kopf und Körper.

Wie die Plüschäffchen zum Aufziehen, die metallene Becken aneinanderscheppern und die über den Tisch hoppeln, bis sie über der Kante abstürzen.

Sie scheint das Dröhnen des Verkehrs längst nicht mehr zu hören. Vielleicht hat sie es auch nur wie einen dicken Vorhang vor ihren Geist gezogen. Die Ampelphasen geben ihr den Takt vor. Rudernd, unerschütterlich rudernd, steht sie wie Strandgut in der Brandung des Feierabendverkehrs; eine Klippe, die fröhliche Menschen auf dem Weg zum Essen oder ins Abendvergnügen umschiffen müssen. Mitten im Kreisen von Blech ragt die flammenfarbene Statue, setzt ihre Roboterbewegungen ins Unendliche fort.
Dürstet es sie nach einer früheren Arbeit im Davor? Oder will sie sich mit zwanghaften Handgriffen von einer Erinnerung befreien? Ist sie Teil einer modernen Kunstinstallation? Ist irgendwo die Kamera eines Happening-Künstlers verborgen? In Warschau ist alles möglich, allzeit.

Wie angewachsen steht die Frau in klirrender Kälte. Die Hebelarme drücken und ziehen und rucken. Maschinengleichmäßigkeit. Aus ihren zeitungsgestopften Stiefeln ist der Tagesaufmacher herausgerutscht. Ihre Sohlen kleben unbeweglich am Boden, verwurzelt im rissigen Beton.

Wer Grün hat, erhascht von all dem nur einen leuchtenden, schwindenden Fleck auf der Netzhaut. Den anderen bleibt von Ampel zu Ampel Zeit zum Nachdenken. Wie ein Karussell dreht sich der Kreisverkehr um sein orangefarbenes Auge. Grell blitzt der Schutzhelm auf in der Nacht. Nur vor sich selbst kann er die Frau nicht schützen.

In der Blechkiste ein Science-Fiction-Gefühl, das sich aus Farben nährt: Bläulichem Abenddunkel, grellhellen Scheinwerfern, blutrot blinkenden Bäumen und dem blutleeren Weiß im Gesicht dieser Frau.

Woran mag sie zerbrechen? An ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart? Warschau packt fünfzig Jahre in einen einzigen Tag.

Mit ihren abgearbeiteten Händen zieht sie die Fahrer im Kreis herum wie Marionetten. Unmöglich, den Blick von ihr abzuwenden. Sie dirigiert die Puppenköpfe hinter den Windschutzscheiben mit leerem, azurblauem Blick. Immer wieder vorwärts, aber an jedem Wendepunkt drehen sie sich nach ihr um. Schau niemals zurück.

Mitten in der City von Warschau, 1994, auf einer Insel kurz vor dem Wendepunkt, zieht eine helmbewehrte Robotergestalt an unsichtbaren Fäden. Autos drehen sich, Köpfe wenden sich, Augen starren gebannt. Sie spiegeln sich im Alles und im Nichts. Sie schauen alle zurück. Fünfzig Jahre an einem Tag.

(c) by Petra van Cronenburg, all rights reserved

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