Literatur entstaubt

Eben noch habe ich die stART conference zum Thema "transmediales Storytelling" angekündigt und vollmundig behauptet, bis es auch bei uns zu Crossmedia-Projekten komme, würde noch ein wenig Zukunft verstreichen. Wenige Tage später berichtige ich mich selbst: Die Zukunft ist längst da. Obwohl es noch bei der Technik klemmt, haben nun auch deutsche Verlage sogenannte enhanced ebooks in wirklich interaktivem Format angekündigt, bei denen die Leser insofern mitmachen können, als sie den Fortlauf der Geschichte selbst bestimmen können. Schlagzeilen machte eben der Aufbau Verlag mit Karl Olsbergs Thriller "Glanz". Die Idee ist eigentlich uralt und stammt aus der Comic-Welt: Walt Disney bot früher in seinen Entenhausener Geschichten manchmal drei verschiedene "Abzweigungen" an, die je nach Wahl des Lesers zu einem anderen Ende führten. Damals musste man noch mühsam in den Heftchen hin und her blättern. Heute soll man sich lustvoll durchs E-Book klicken.

Während Random House bisher nur auf dem amerikanischen Markt seine Kinderbücher mit Multimedia aufpeppt und Verlage wie Bastei Lübbe und Rowohlt ähnlich wie bei Film-DVDs ebenfalls auf "Zusatzgimmicks" setzen, entwickelt Fischer eine Märchen-App und eine Zeitschriftenausgabe als Datenbank. In den USA geht es mal wieder schneller voran. Brain Candy etwa hat eine Fantasy-Welt namens "Runes of Gallidon" geschaffen, die seine Fans in allen nur denkbaren Techniken bereichern aund ausbauen dürfen.

Das sind nur ein paar Beispiele dafür, dass inzwischen immer mehr Großverlage nicht nur in digitale Formen investieren, sondern auch ganz gezielt den Weg frei machen fürs transmediale Geschichtenerzählen. Die ersten Entwicklungen zeigen aber auch die Grenzen auf: Verlage erreichen mit ihren Büchern zwar unzählige Leser, schaffen aber nicht unbedingt die Brücke zwischen Autor und Leser. Noch sind solche Geschichten multiple-choice-Dateien, noch lässt Reader-Technik allein keine wirklichen Ideensprünge zu. Aber auch da überschlägt sich die Entwicklung derzeit so wild, dass alles nur noch eine Frage der Zeit ist. Die Nase vorn haben werden diejenigen, die das Experiment wagten und Erfahrungen sammeln konnten, Autoren wie Verlage. Denn auch das wird nun schnell klar: Verlage könnten in diesem Bereich neue Kompetenzen aufbauen, um Autoren zu binden. Multimediaproduktionen sind nicht nur kostenintensiv, sondern brauchen jede Menge Fachleute. Ein Verlag, der mir all dies bietet, wird zum kompetenten Partner. Umgekehrt gilt: Verlage brauchen aktive Autoren, die mit ihren Lesern ins Gespräch kommen - sie werden künftig gezielt danach suchen.

Bei der ganzen Entwicklung fasziniert mich eins am meisten: In welch unvermuteten Ecken man die Pioniere findet. Wer die Sache als Laie betrachtet, wird vermuten, transmediales Storytelling sei vor allem für die Unterhaltungsbranche geeignet. Von wegen! Kennt jemand Marlene Streeruwitz? Die österreichische Autorin und Regisseurin hat immer wieder mit zwei Dingen auf sich aufmerksam gemacht: Sie nimmt politisch kein Blatt vor den Mund - und sie bekommt einen renommierten Literaturpreis nach dem anderen. Nun könnte man fragen: Wie zukunftsfähig ist eigentlich Literatur? Selbsternannte Branchenkenner prophezeien der sogenannten Hochliteratur ja immer wieder das Aus und behaupten, eine gewisse Spezies Autor würde spätestens mit dem E-Book aussterben.

Die streitbare Marlene Streeruwitz beweist mit ihrem neuen Buch, dass es auch völlig anders geht. Als Pionierin geht sie sogar noch einen riesigen Schritt weiter und bindet ihre Leserinnen und Leser aktiv ins Geschehen ein. Im Fischer Verlag ist soeben ihr Buch "Mir kann das alles nicht passieren ... Wie bleibe ich FeministIn" erschienen - die Mädchenmannschaft führte mit der Autorin ein Interview dazu.

Da gibt es also ein Essay und elf literarische Erzählungen. Noch vor Jahren hätte man gesagt: ein sperriger Stoff. Wie bitteschön kann man mit "echter Literatur" Menschen so begeistern, dass sie selbst aktiv werden? Die Autorin nimmt das selbst in die Hand, indem sie ihr Buch nicht auf Reader, sondern ins Internet und auf andere Medien "fortpflanzt". Ihr Essay gibt es als Video. Interaktivität erzeugt sie mit einfachster Blogtechnik auf der Domain wie.bleibe.ich.feministin.org

Dort gibt es nicht nur Interviews zum Anhören oder Rezensionssplitter, dort sind vor allem die Leserinnen und Leser aufgerufen zum Mitmachen. Die literarischen Erzählungen dürfen diskutiert werden, die Autorin gibt unbekannte Dinge aus dem Leben ihrer ProtagonistInnen preis. Themen und Fragen werden vertieft. Vor allem aber können die LeserInnen die Geschichten online selbst weiterschreiben - die Autorin diskutiert mit. Das nenne ich wirklich interaktiv, so stelle ich mir die wahren "Mitmachbücher" der Zukunft vor. Vielleicht werden diese Bücher eines Tages auch endlich den verstaubten Deutschunterricht killen, bei dem der Lehrer fragt, was sich der Autor gefälligst alles bei seinen Texten gedacht haben soll, und zig Schüler, durch Interpretationen genervt, passiv Literatur konsumieren und ganz schnell über haben.

Marlene Streeruwitz macht vor, dass Literatur spannend, aktuell und wichtig sein kann und einen Platz in unserem Leben verdient, weil sie Menschen berührt, verändert und zu echtem Austausch führt. Solch entstaubter Literatur werden hoffentlich noch viele Autorinnen und Autoren folgen.

Lesetipps für Autoren, die sich für Transmedia Storytelling interessieren:

Gatekeeping the story, not the page ist eine hervorragende Einführung in Transmedia, wie sie schon in der unscheinbarsten Anwendung von Autorenwebarbeit gelingen sollte: Nichts ist schlimmer, als in jedem Medium immer wieder die gleiche Geschichte zu wiederholen. Die Kunst liegt darin, aus jedem Medium dessen Stärken herauszukitzeln, um sich ergänzende und überlappende Geschichten zu erzählen. Hier lernt man den gewissen Klick im Blick, das Umdenken.
Content Strategy 101 für Publishers and Authors erklärt, was man sich unter den Inhalten bei Transmedia vorstellen muss und wie man Strategien für deren Entwicklung findet. (Achtung: Dies ist ein freies Webinar, das am 16.11. stattfindet - Registrierung erforderlich).

update:
Eben bei Heinrich entdeckt, dass Karl Olsberg ein eigenes Blog hat und darin berichtet, wie er den Roman mit mehreren Enden geschrieben hat.

2 Kommentare:

  1. Liebe Petra,

    vielen Dank für diese Fülle an Informationen! Unfassbar, in welch kurzer Zeit Du das alles zusammenträgst! Ich werde noch Tage brauchen um das zu verarbeiten.;-)

    Die Möglichkeiten, die sich interaktiv ergeben sind unermesslich und furchterregend zugleich. Alternative Enden bei Filmen stören mich immer sehr. Ich möchte wissen wie die Geschichte ausgeht - nicht wie sie ausgehen könnte. Auf Bücher bezogen hat das etwas von Schizophrenie. Ich stelle mir das Buch dann als Dschungel vor, als Labyrinth. Es gibt zig Wege um weiterzugehen, aber welcher ist der Richtige. Und was ist, wenn es gar keinen Richtigen mehr gibt? Wenn wirklich keine zwei Leser das gleiche Buch mehr lesen, weil jeder einen anderen Weg wählen kann?
    Erschreckend.
    Und welcher Autor lässt sich darauf ein? Wie groß ist der Arbeitsaufwand um das zu gestalten?

    Ich könnte mir durchaus vorstellen, ein und dasselbe Buch mit zwei verschiedenen Enden zu schreiben, aber diese extremen Varianten, die ständigen Wechsel auch innerhalb der Geschichte? Vielleicht eine Herausforderung als Schreiberling, aber als Leser würde mich das abschrecken. Vor allem würde es mich der Möglichkeit berauben, mit anderen über das Buch zu diskutieren. Nein, es würde noch mehr diskutiert werden, aber anders, weil man nicht dieselben Anhaltspunkte hat. Das stelle ich mir sehr unbefriedigend vor.

    Eher gefiele es mir z.B. aus drei verschiedene Perspektiven zu schreiben und der Leser könnte selbst entscheiden, welche er bevorzugt oder sogar mittendrin wechseln. Das böte zumindest psychologisch viel Interessantes.

    Zum Leserkontakt:
    "Die literarischen Erzählungen dürfen diskutiert werden, die Autorin gibt unbekannte Dinge aus dem Leben ihrer ProtagonistInnen preis. Themen und Fragen werden vertieft."

    Eine tolle und nachahmenswerte Idee von Frau Streeruwitz!

    Liebe Petra, Du hast mir eine Menge Stoff zum Nachdenken gegeben!

    Liebe Grüße
    Nikola

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  2. Liebe Nikola,
    freut mich, wenn's anregt! Zur Schnelligkeit: Ich bin Journalistin, es ist mein "Job", sowas in einer halben Stunde zu recherchieren ;-)

    Ich bin ein wenig erstaunt, dass Neuerungen im Goetheland zuerst immer Ablehnung produzieren und eine diffuse Angst vor Ausschließlichkeit. Es will ja keiner NUR das eine, herkömmliche Schmöker wird's weiter geben (die interessieren mich im Blog nur weniger, weil man darüber überall woanders besser lesen kann).

    Der Dorferzähler war wahrscheinlich anfangs auch schockiert, als seine Kumpels sich plötzlich Merkkerben in Ton ritzten ;-) ... Ist es nicht eher schön, wenn es immer mehr Möglichkeiten des Erzählens gibt?

    Donald Duck zumindest hat Leserinnen wie dich nicht im Stich gelassen: es gab die Hauptstory. Aber an einem gewissen Punkt wurde dir gesagt: wenn du jetzt umsteigen willst, tu es. Und du hattest die Wahl, Donald in den Dschungel zu schicken oder aufs Meer. Bei so einem kleinen Comic kannst du natürlich alle Varianten lesen, beim Buch wirst du angeblich in einem Leben nicht fertig - ein unendliches Buch?

    Du siehst in meinem Artikel, es gibt bereits Autoren, die sich darauf einlassen. Das muss man natürlich können - aber wer mit Storyboards umgehen kann, bewältigt es. Eigentlich hat die Technik viel mit Film und Comic zu tun. Aber das mit den Enden ist ja nur eine einzige Möglichkeit von sehr vielen anderen, die entstehen können / werden! (In Japan z.B. gibt's die Handy-Romane mit sehr eigener Erzählweise)

    Wenn ich von deinem Unbehagen lese, kommen mir ganz philosophische Gedanken. Und dann stellt sich mir die Frage, ob das nicht genau die Erzählweise ist, die unsere Befindlichkeit widerspiegelt: Unendlich viele Wahlmöglichkeiten, Verunsicherung, Orientierungslosigkeit, der Zwang, sich entscheiden zu müssen und gleichzeitig die Angst vor der Entscheidung...
    Menschen entwickeln ihre Erzählmöglichkeiten ja nicht umsonst so oder so...

    Ich schreibe noch einen Artikel dazu, das Thema treibt mich nämlich um...
    Schöne Grüße,
    Petra

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