Am Horizont das Ziel

Ich hielt mich immer für einen unsportlichen Typ, weil ich im Sportunterricht eine echte Niete war. Ich hielt mich selbst dann noch für unsportlich, als ich mit einer fünfköpfigen Huskymeute zusammenlebte und mich von ihnen trainieren ließ. Doch heute habe ich das Gefühl, dass selbst das Hirn ein trainierbarer Muskel ist, der durchaus seinen Muskelkater haben kann. Finger, Hände und Schultern jedenfalls sollten auch Menschen der schreibenden Zunft öfter einmal pflegen...

Fast habe ich einen Marathon geschafft. Beschreien will ich es nicht, noch kann alles schiefgehen! Aber seit heute habe ich endlich endlich das Ziel am Horizont sichtbar vor Augen - seit ich mich selbst überholen konnte. Irgendwie habe ich eine Technik gefunden, größere Mengen Rohübersetzung in druckfeinen Text zu verwandeln. Halte ich das Tempo durch, wäre ich in sieben reinen Arbeitstagen am Ziel (die ich natürlich nicht am Stück habe). Ein bald 700 Seiten starkes Buch, das nicht einfach "herunter" zu übersetzen war, sondern intensive Fachrecherchen benötigte, die sich unter anderem in Fußnoten für die deutschsprachigen Leser niedergeschlagen haben. Mein erstes Buch als Übersetzerin, warum auch klein anfangen...

Hochleistungssport. Danach gehörte ich eigentlich in ein Sportler-Erholungscamp. Stattdessen kann ich es kaum erwarten, mich vollkommen in eine andere Arbeit zu stürzen: das Nijinsky-Projekt. Es brüllt regelrecht in mir. Nachts träume ich davon und tagsüber muss ich mich mit aller Gewalt zwingen, nur kurz Ideen zu notieren und nicht gleich daran zu arbeiten. Und dann ertappe ich mich dabei, dass ich doch wieder abschweife und wie auf Entzug nach Papier und Stift suche. In Kaffeepausen bastle ich kleine Coverentwürfe, einfach so vor mich hingespielt... Manchmal muss ich lachen: Würde man mir Papier und Stift nehmen, ich wäre wahrscheinlich so weit, die Tapeten zu beschriften. Das Übersetzen macht mich dabei nur verrückter: Da tanzen die Ballets Russes nämlich auch öfter durchs Buch, als Randfiguren zwar, aber deutlich genug, um mich abzulenken.Stattdessen recherchiere ich militärische Dienstgrade und Drogensorten, Dreyfus und die Bolschewiken, französische Kosenamen und Flüche.

Es ist wunderschön und bereichernd, wenn man zwischen drei sich so ideal ergänzenden Berufen herumtanzen kann. Aber mir wird jetzt so klar wie nie zuvor, dass das "eigentliche" Schreiben bei mir so gar nichts von "Beruf" hat, weil es derart zwingend Teil des Lebens ist, dass man tatsächlich Entzugserscheinungen bekommen kann, wenn es verhindert wird. Diese Sieben-Tage-Hürde fühlt sich für mich an wie der Adventskalender als kleines Kind. Danach kommt helles Licht, ein riesiges Fest. Dann kann ich nach Lust und Laune spielen.

Was für eine Leistung gutes Übersetzen ist, war mir schon immer klar. Aber jetzt weiß ich auch, unter welchen Umständen, mit welcher Kraft Buchübersetzungen geschaffen werden - kaum ein Vergleich zum Übersetzen in der freien Wirtschaft. Es wird immer wieder diskutiert, Ebooks müssten billiger sein als gedruckte Bücher, weil weniger Herstellungskosten anfielen. Mit dem gleichen Recht könnte man fragen, warum übersetzte Bücher den gleichen Preis haben wie Bücher von heimischen Autoren. Denn hier schafft zusätzlich zum Autor eine zweite Person ein Buch neu - in einer anderen Kultur, Denkweise und Sprache. Wir können nur deshalb so viele Lizenzen lesen, weil sie sich gegenüber dem heimischen Schriftsteller für die Verlage offensichtlich immer noch finanziell lohnen.

Dieser Leistung gegenüber bin ich sehr viel sensibler geworden. Und deshalb macht es mich traurig, wenn Medien und Leser ohne nachzudenken über die Übersetzer herziehen, wie etwa im Fall Franzen geschehen. Hier wurde unter extremem Zeitdruck gearbeitet, fast unmöglich für einen solchen Roman. Immer näher am Erscheinungstermin des Originals sollen die Übersetzungen herauskommen, um Medieneffekte mitzunehmen. Schwächen bei sogenannter "Lesefutter"-Ware wiederum haben oft ein anderes Problem als Ursache: Da wird am falschen Ende gespart - und für lausige Honorare bekommt man eben keine erfahrenen Leute. Aber so paradox das klingt: Übersetzen lohnt sich tatsächlich nur dann, wenn man sehr schnell ist. Es ist ein wunderschöner Beruf, aber es ist ein Knochenjob im Dienste einer der schönsten Beschäftigungen der Welt - dem Lesen.

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