Biss zur Buchstabentransfusion

Nun ist es offiziell: Ich muss in diesem Monat nicht Tag und Nacht für drei arbeiten. Das zu übersetzende Buch erscheint erst im Frühjahr 2011, so dass ich nun auch die kniffligen Literaten und die Lyrik-Einsprengsel gelassener angehen kann. Nicht, dass das zur Faulenzia verleitet, die täglichen Portionen werden nur kleiner. Es gibt mehr Kopf frei für die Endphase des Europaprojekts, für das bis Dienstag noch Broschürentexte zu schreiben sind und danach welche zu übersetzen. Ich habe also tatsächlich einmal ein freies Ostern. Daran muss ich mich erst noch gewöhnen.

Wie ein genesender Worcoholic taste ich mich langsam ans Nichtstun. Verschnitt heute endlich meine Rosen - es war höchste Zeit. Genoss den sanft grünenden Wald, in dem der Weißdorn schon seine Blättchen entfaltet und das Sumpfwasser müffelt. Meine Hände sehen natürlich wieder aus, als hätten Minivampire an den falschen Körperstellen gekratzt; typisch, denn anderen Leute empfehle ich natürlich Rosenhandschuhe, nur selbst benutze ich sie ungern. Und irgendwie war mir nach so viel Freizeit wie Blutverlust zumute...

Es ist schon lustig. Kaum wird mein Hirn frei für eigene Denkarbeiten, spitze ich schon wieder die Eckzähne. Mich überkommt ein ungeheurer Appetit. Weggeräumt in der Bibliothek liegt ein Luxuskörperchen, blutvoll. Ich kann seine Farbe genau vor mir sehen, ein tiefes, leuchtendes Ultramarinblau. Es rappelt im Regal wie ein Sack widerspenstiger Flöhe, als renne alles darin durcheinander. Ab und zu schreit etwas darin. Und dieses Luxuskörperchen bläht sich seit heute auf, dass mir vor Appetit fast die Sinne vergehen.

Ich wette, ich halte es noch einen halben Tag lang aus mit dieser selbstverordneten Kräfterekonvaleszenz. Dann beiße ich zu. Wahrscheinlich genau in eine dieser schreienden Stellen. Erst danach wird es mir richtig gut gehen. Danach werde ich wieder ein ganzer Mensch sein. Und Kraft saugen für all die anderen Arbeiten und fürs Nichtstun, das eine sehr anstrengende Sache sein kann.

Das ultramarinblaue pralle Luxuskörperchen schreit, weil es ziemlich viele lose Enden hat, an die eigentlich Extremitäten gehören. Es wuselt so wild darin herum, weil das Personal noch ungehorsam und ausgeflippt Orte und Zeiten wechselt, manchmal sogar Person und Geschlecht. Manchmal scheinen sich einzelne von diesen wilden Flöhen heimlich irgendwo zu nähren, dann werden sie fett, versuchen andere zu erdrücken. Anderen habe ich Maulverbot erteilt, aber sie hören nicht auf mich. Heimlich tauschen sie Fotos und werfen mit Dingen nach mir.

Wenn es so umgeht in einem Zimmer, hilft nur noch ein Biss. Sozusagen als Rache, weil es mich ja längst gebissen hat, das Ding. Längst hat es einen eigenen Duft. Es riecht nach uralten staubigen Schrankkoffern, nach Maschinenöl in heißen Schiffsbäuchen, nach Rabengefieder in klirrendem Frost, nach Milch und Honig und schmelzendem Asphalt im Sommer, nach Mohnwiesen im Wind und ungewaschenen Reisenden. Es ist blau wie das Meer, der Himmel, gekalkte Wände, Sehnsucht, Heiligenmäntel, Veilchenduft, wie eine Komposition von Kandinsky oder das Tuten der Wagnertuben bei Strawinsky.

Verführerisch liegt mein neues Projekt vor mir, von dem ich immerhin schon 30 Seiten, unzählige Notizen und Tonnen von Ideen verbrochen habe. Das ich so sträflich vernachlässigen musste, um Geld zu verdienen. Es schreit nach mir. Ich sehne mich nach ihm. Einer Schriftstellerin Freizeit zu schenken, bedeutet, sie vom Nichtstun abzuhalten.

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