Wie vernagelt?

Wie vernagelt kann man eigentlich sein? Wie viele Bretter kann man eigentlich vor dem Kopf tragen, ohne dass es schmerzt? Und dabei sind am schlimmsten die Leute, die für andere immer so schlau klingende Ratschläge haben, sie aber selbst nie beachten: Ich bin eine von denen.

Gestern unterhielt ich mich lange mit einem, der beruflich nichts mit Kunst, aber umso mehr mit Business zu tun hat. Einer seiner Aussprüche klingelte mir im Ohr - es ging um schnöde Brotjobberei:
"Du musst ganz nach oben, wo es einsam ist. Weil dort die Kombination deiner Erfahrungen und Fähigkeiten einzigartig ist - und da absolute Qualität liefern."
(Sorry, wenn ich das Zitat etwas auf Aphorismenlänge bringe). Das brodelte also in mir, ohne dass ich an die Folgen gedacht hätte.

Und dann hab ich bei einem Kollegen die Schlaumeisterin gespielt und Folgendes von mir gegeben:
"Und wir fragen heute nur noch, ob das auch verlegt wird. Das gibt mir sehr zu denken. Vielleicht stellen wir völlig falsche Fragen. [...] Kurzum, die [es ging um eine Kunstrichtung] haben sich höchstens gefragt: Genüge ich meiner Idee, kann ich meine Idee ausdrücken?"
 Gleichzeitig kam unverhofftes Geld, nicht viel, aber unverhofft, so dass es nicht fehlen würde, wenn man sich damit etwas Gutes tut, etwas Luxuriöses, für dieses schreckliche vergangene Jahr. Was ist der Inbegriff des bezahlbaren Lebensluxus und Genusses? Eine Konzertkarte. Ich ging schmökern, nach schneefreien Terminen.

Drei völlig voneinander unabhängige Gegebenheiten, die in einem normalen Hirn wahrscheinlich nur etwas zusätzliche Durchblutung erreichen würden. Aber Schriftstellers funktionieren irgendwie anders. Um zu zeigen wie, muss ich ausholen: Vielleicht erinnern sich einige Blogleser an meinen fürchterlichen Zwiespalt zwischen zwei Projekten. Das eine schwelt seit Jahren und spielt zu großen Teilen in Polen. Das andere überfiel mich mit Pauken und Trompeten oder vielmehr Boris Godunow und begleitet mich eigentlich seit der Schulzeit und noch länger - und hat mit Russland, insbesondere St. Petersburg zu tun. Alles war klar. Hier kann man nachlesen, wie Petersburg verröchelte. Aus ach so vernünftigen Gründen. Und - ja so viel Zeit bleibt mir (ich habe den Fernseher abgeschafft) - ich schrieb fleißig Probetexte für das "Polenprojekt".

Es floss nur so. Mir fiel jede Menge ein, meine Sprache berauscht mich selbst, ich bin überrascht, was dabei herauskommt. Und fühle mich ausnahmsweise nicht größenwahnsinnig, weil zwei Leute vom Fach das auch finden. Und die muss ich enttäuschen. Es fühlt sich nämlich nicht richtig an. Es ist eine Mischung zwischen dem, was ich "deutsche Betroffenheitsliteratur" nenne und einem "ich tät' ja gern wie XY, aber es reicht einfach nicht". Das ist aber nicht alles, dass die Eigenkritikerin alles in der Luft zerreisst. Es fehlt etwas exorbitant Wichtiges: Leidenschaft. Hingabe. Und diese winzige, überlebenswichtige Prise Größenwahn, die da besagt: "Ich schaff das, und wenn ihr und mein Talent und alles auf der Welt mir Knüppel vor die Schienbeine knallt, ich steh immer wieder auf, ich schaff das."

Mir tut jeder leid, der mich in solchen Phasen aus der Nähe ertragen muss. Es ging um ziemlich üble Entscheidungen. Immerhin hatte ich an jenem "vernünftigen", von außen gelobten Projekt seit Jahren immer wieder gearbeitet, mich sogar (vergeblich) um ein Stipendium beworben. Und gegen das andere sprach jede Vernunft. Aber zum Glück währte die Phase nur einen Tag lang. In diese Unzufriedenheit mit mir selbst krachten die oben beschriebenen winzigen Szenen. Und in der Nacht dazwischen begegnete ich ausgerechnet noch der Figur aus jenem verworfenen Projekt, streifte mit ihr durch Petersburg (ich war da noch nie!) - und noch verrückter: konnte sie alles fragen, was ich wollte. Ich wurde zum großen "marmite", jenen Kesseln, in denen die Gallier ihren Zaubertrank köcheln, und da brodelten diese Zitate und Szenen und Figuren...

Und dann stand ich fast neben mir. Suchte nämlich nach einem schönen "Event" für mein unverhofftes Geld und blieb am Mariinsky-Theater hängen. Kann sich unsereins normalerweise nicht leisten, aber... Ich meine, schon allein als Belohnung für den Nijinsky und die Ballets Russes, schließlich hat das Genie dort angefangen! Und jetzt Valery Gergiev bei mir ums Eck (!), wie soll ich da widerstehen? In diesem Fall eine Opernkarte, die ich mir genüsslich persönlich kaufen werde, nur um das hier zu genießen (in meiner Schulzeit war der Alte Bahnhof als damals übelster LSD-Umschlagplatz der Region elterlich verboten).

Schriftsteller SPINNEN. Planen Operngenuss und plötzlich spricht jeder Satz mit jedem, vernetzen sich alle Szenen, auch ungebetene, und reden fiktive und historische Figuren einem gehörig rein.
Ich Trottel. Ich hatte einfach nur ständig die falschen Fragen gestellt. Ich hatte die wichtigste Frage vergessen:

"Was muss ich tun, um zu KÖNNEN, was ich erträume?"

Da steh ich nun, ich dummer Tropf. Mit einem verrückten Projekt, gegen das alle Vernunftsgründe der Welt sprechen und an dem man so im Schnitt zehn Jahre schreiben kann. Bei mir wird es wohl weniger werden, weil es mich schon so früh immer wieder am Kanthaken hatte. Und auf einmal weiß ich, dass ich einen völlig anderen Aufhänger brauche, dass ich dorthin muss, wo es einsam ist, weil die Kombination...

Ich kann schlecht beschreiben, was in so einem Moment abläuft. Vielleicht erleben Mathematiker so etwas Ähnliches, wenn plötzlich völlig unsinnige Zahlenreihen sich miteinander so kombinieren, dass sie eine neue Hypothese ergeben. Auf einmal standen mir ein paar angeblich zufällige, anscheinend nebensächliche Begegnungen von 2009 vor Augen, die mich geschubst hatten, ohne dass ich es wahrnahm. Jetzt weiß ich auch, dass es überhaupt keine Rolle mehr spielt, ob mir diese Idee ein Verlag abnehmen wird - dafür gibt es Abnehmer. Ich muss nur nicht einfach nur wollen, sondern auch können.

Und damit fängt die Arbeit an. Harte, verdammt harte, aber begeisternde Arbeit. Ich muss nämlich einen neuen Aufhänger, einen roten Faden finden, eine Geschichte, die all das zusammenhält und transportiert. Aber vorher fahre ich nach Baden-Baden und kaufe mir - sofern noch vorhanden, den Eintritt in ein kleines Paradies. Kann ich was dafür, dass der Mann ausgerechnet Boris Godunow gibt?? Kann man sich als Schriftsteller gegen solche Koinzidenzen wehren???

- in memoriam des Teilchenbeschleunigers von Onkel Vladimir

6 Kommentare:

  1. Na klasse!
    Und das Wichtigste wird mal wieder nicht verraten...

    *hibbel* *zappel* Was ist das für ein verrücktes Projekt???

    Jan Ungeduld

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  2. PS: Und geh Onkel Vladimir aus dem Weg!
    Wer weiß, auf was für Ideen der dich sonst noch bringt....

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  3. Ich erzähl dir was.

    Als ich mit der letzten Überarbeitung vom "Blackout" durch war, fragte mich die Lektorin: "Frau Gabathuler, haben Sie sich schon überlegt, was Sie als nächstes schreiben wollen."

    Hatte ich nicht. Weil ich nie damit gerechnet hatte, nach dem Glückstreffer, überhaupt bei einem Verlag gelandet zu sein, dort auch WEITERMACHEN zu dürfen. Und so hatte ich einfach geschrieben. Für mich. Genau das, was ich schreiben wollte. Und beim NaNoWriMo in einem Monat 50'000 Wörter geschrieben.

    Trotzdem: Klar wusste ich, was ich schreiben wollte. Einen weiteren Krimi (basierend auf der NaNoWriMo-Idee).

    Und dann war da noch was. Dieses "Genau das, was ich schreiben wollte". Etwas, von dem ich dachte, es würde NIE einen Verlag finden. Zu zerstückelt, falsche Erzählzeit, keine Ahnung, in welcher Nische so was überhaupt Platz hatte. Also schrieb ich der Lektorin: "Einen Krimi. Und dann hätte ich da noch was, was sowieso nie veröffentlicht wird."

    "Schicken Sie", schrieb sie zurück.
    Ich schickte.
    Wenige Tage später schrieb sie: "Wir wollen."

    Es war "Das Projekt". :-)

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  4. Ach was, Onkel Vladimir ist harmlos.
    Schlimmstenfalls besetzt er deine Küche, solange du arbeitest.
    Und das wirst du tun in nächster Zeit, denn deine Begeisterung war selbst durch das tote Medium Internet körperlich spürbar! Wahnsinn! Danke für diesen ansteckenden, mitreißenden Blogbeitrag! Und ganz viel Spaß in der Oper!!

    Jutta

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  5. @Alice
    Ich liebe solche "Verlagsmärchen", Alice! Ausgerechnet "Das Projekt", das ich so fabelhaft fand, selbst als Erwachsene, dass ich's rezensieren musste! Nicht auszudenken, wenn du das in der Schublade gelassen hättest... Man muss wohl viel mehr Unvernunft wagen. Diesem Buch merkt man nämlich das "Genau das" an. Danke fürs Teilen dieser Geschichte.

    @Jan
    Das Projekt hat schon ein neues "Denkheft" (will also wirklich ins Leben), in dem wild durcheinander ein paar Zitate notiert sind, z.B. Marc (nein, über den schreib ich nicht) in einem Brief:

    "Kennen Sie den Zustand: es quält uns eine präzise Idee, aber wir kennen sie nicht; wir fühlen aber ganz deutlich, dass sie wesenhaft da ist, in uns sitzt und an uns zerrt, aber wir können nicht darauf kommen, welche es ist."

    Du weißt, wenn man zu früh über diese Idee spricht (in der Öffentlichkeit schon gar nicht), lässt sie sich nicht mehr fassen. Erst muss der Keim gehütet werden. Ich könnte sie auch noch nicht ausdrücken, mir geht's wie Marc. Ich weiß nur, dass gestern der Knoten aufgegangen ist, dass ich diesen "ganz-woanders"-Aufhänger ahne ... und jetzt einfach mal mit offenen Augen mit Onkel Vladimir einen Tee trinken muss ;-)

    Und eigentlich DARF ich diesen Monat gar nicht an Bücher denken, ich habe nämlich ein immenses Übersetzungspensum und Deadline fürs Europaprojekt. Aber auch das ist typisch für Bücher - irgendwo findet sich immer noch ein Zeitloch zum Schreiben...

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  6. @Jutta
    Ich fürchte, Onkel Vladimir wird kochen müssen. Bei so viel Arbeit bis über beide Ohren sehe ich diesen Raum nämlich kaum noch ;-)
    Freut mich, dass man das so spürt - das ist mein Traum, das auch im Buch zu können. Ich arbeite noch dran...

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