Die feine Musik des Lesens

"Doch nun kam die Musik von oben und wurde den Leuten in den Schlund gerammt." So urteilt der Musiker John Mellencamp über das moderne Musiksystem. Im Zwischenlebenblog empfiehlt Thomas Roeder dessen Artikel "Wie ein Rudel Katzen" in der SZ und fragt nach Parallelen zur Literatur - und danach, ob Menschen künftig bereit sein werden, für Konsumware oder Kunst zu bezahlen.

Wenn Mammuts aussterben

Auch ich bin versucht, ständig mit dem Kopf zu nicken, wenn ich Mellencamps Bericht lese. Das haben wir doch längst in den großen Publikumsverlagen auch. Die Rechnerei mit den Abverkaufszahlen, die allzu kurzfristig über das Leben von Autoren entscheiden; das "Profitcenter" Buch, wo man nur in die großen Absahner investiert und den Rest sozusagen als Kollateralschaden auf den Markt kippt; das Fälschen und Zocken mit Auflagenhöhen für die Konkurrenz, Autoren, die immer mehr Zeit damit verbringen müssen, sich selbst zu vermarkten anstatt Bücher zu schreiben; der Zwang zur Medienpräsenz bis hin zum Promigedöns in Talkshows. Und die "Kultur der Gier" erleben Autoren nicht erst beim Verhandeln von Verträgen - sie ist auch im Publikum allgegenwärtig: Immer mehr Buch für immer weniger Geld soll her.

Nun bin ich absolut keine Freundin von Predigten über den Untergang des Abendlandes (und falls es tatsächlich untergehen sollte, war es vielleicht an der Zeit). Kultur ist für mich das veränderlichste Gut überhaupt - sie wandelt sich, seit Urmenschensippen unterschiedlicher Kulturen aufeinander trafen und sich gegenseitig befruchteten. Und wenn Kultur nicht mehr bereit ist zum Wandel, ist sie innerlich tot. Wir haben uns nun mal eine Konsumkultur geschaffen, haben spätestens seit den frühen Siebzigern hart daran gearbeitet, dass Ware und Marke wichtige Werte unserer Gesellschaft wurden. All das, worüber wir jetzt jammern, haben wir mitgeschaffen - und sei es durch unsere eigene Gleichgültigkeit. Wir sind Käufer und Käufer sind käuflich.

Jetzt so zu tun, als hätten wir die Auswüchse eines gierigen und blinden Konsumismus nicht gewollt, wäre reine Heuchelei. Da wir aber nicht besser oder schlechter sind als der mammutgeile Steinzeitmensch, haben wir auch die gleichen Chancen wie er. Der Mensch ist ein hervorragend anpassungfähiges Lebewesen. Sterben die Mammuts plötzlich aus, findet er Neues. Heute beten wir Mammuts an und morgen Bisons.

Lernen vom Polenmarkt

Ich denke, der zentrale Punkt in der Diskussion, der als Diskurs schon einige gesellschaftliche Kreise durchzieht, ist das scheinbare Gegensatzpaar Geldwert - Wertigkeit. Und wenn das Individuum immer stärker betont wird, kann es auch keinen Konsens mehr darüber geben - jeder setzt seine Wertigkeiten anders. Denkt man das weiter, entstünden in Zukunft womöglich eine Unzahl fragmentierter, in sich und miteinander beweglicher Märkte. Salopp und verkürzend ausgedrückt etwa das, was in den frühen Neunzigern auf einem typischen Polenmarkt blühte: Globales und Regionales, Chaotisches und Vertrautes, Legales und Illegales, Handtuchhändler und Kioskbesitzer, Armut und Reichtum, Verrücktes und Konventionelles. Und das alles hat sich aus dem Chaos heraus dank der Menschen selbst geregelt - heute erkennt man diese Märkte nicht wieder.

Ich finde, es wäre längst an der Zeit, das Jammern aufzugeben und die gute alte Tugend der Improvisation wiederzubeleben. Vorwärtsdenken. Visionen entwickeln. Ich persönlich glaube nicht an eine neue Form des Kommunismus, wo sich frei nach Lenin jeder kostenlos besorgen kann, was er braucht oder zu brauchen glaubt. Ich glaube aber, dass sich die "Geiz-ist-geil"-Gemeinde einen eigenen Markt schaffen wird (eigentlich längst geschaffen hat). Warum sollen sie eigentlich nicht damit glücklich werden, bis auch dieser Markt an seiner Monokultur erstickt?

Gestern sah ich im Fernsehen einen Bericht über das Musiksystem in Venezuela (der Dokumentarfilm El Sistema kommt demnächst in die Kinos). Einfach überwältigend, was dieses arme Land da aufgestellt hat und jetzt die Konzerthäuser der reichen Welt lehrt. In Venezuela wird Musikuntericht verschenkt. Kostenlos. Musikschulen unterrichten Kinder und Jugendliche umsonst. Die Schulen wachsen wie die Pilze aus dem Boden, auch in den Favelas. Musiker leiten kostenlos Kinder- und Jugendorchester. "El sistema" lehrt aber nicht nur Musik nach Noten.

Es lehrt, dass Kunst Menschen nicht nur glücklich und kreativ macht, sondern auch einen Ausweg aus Ghettoisierung und Armut bieten kann. Kunst vermittelt Selbstwertgefühl und gesunden Stolz. Musik hilft aus dem Teufelskreis von Kriminalität und Verzweiflung heraus. Die Initiatoren haben vor 30 Jahren elend kämpfen müssen für ihr Konzept, vor allem ums eigene Überleben. Heute, so hieß es, könnten sie sich kaum retten vor Angeboten, solche Musikschulen zu finanzieren. Den Löwenanteil finanziert der Staat, der begriffen hat, dass Kunst der ganzen Gesellschaft nützt. Und doch ist es ein Projekt außerhalb eines verkrusteten Establishments.

Das Geld liegt auf der Straße

Vielleicht muss die Kultur an völlig neuen Türen anklopfen? Geld ist da. Und es stand noch nie so viel Geld weltweit zur Verfügung wie heute. Die Quellen ändern sich nur, die Geldströme. Nicht auszudenken, was man mit den Millionen und Milliarden für die Autoindustrie vor Jahren für Bildung oder gegen Armut hätte anfangen können. Wir sind nicht arm. Und an jeder Krise wird kräftig verdient. Vielleicht wird es jetzt wichtiger, darauf zu achten, wohin diese Ströme fließen, wer nur abzocken will und wer etwas "verdient" hätte? Und vielleicht wird es tatsächlich Zeit, dass Sturm in die althergebrachte Kultur fährt?

Wir Autoren müssen uns entscheiden. Es lockt der Geiz-ist-geil-Markt mit seinen Zahlenspielereien vom Massenpublikum. Und es gibt einen unwahrscheinlich großen Hunger nach Wertigkeit. In einem Mark, der ähnlich wie "El Sistema" vor dreißig Jahren erst angedacht werden wird, der sich durchboxen muss und bewähren.

Es werden in diesen Zeiten eine Menge Kreativer auf der Strecke bleiben, in beiden Bereichen. Im Billigsektor diejenigen, die mit der billigeren Ware auch selbst immer billiger werden müssen - und die die Gratwanderung zwischen Markenzeichen und austauschbarer, fälschbarer Massenware nicht schaffen werden. Es werden auch Künstler auf der Strecke bleiben, vielleicht, weil sie nicht so beweglich sind. Noch häufiger, weil ihnen beim Durchhalten bis zum neuen System die Luft finanziell ausgeht. Aber mindestens eben so viele werden verdammt gute Ideen für die Zukunft gebären, da bin ich mir sicher! Das Wesen der Kunst ist nämlich ganz bestimmt nicht ihr eigener Untergang.

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