Zukunftsmusik Buch

Verunsicherungen im Altgewohnten

Irgendetwas stimmt nicht mehr mit der Verlagsbranche - diese Beobachtung machen seit rund einem Jahr immer mehr Autoren und Agenturen. Noch kennt die wahren Ursachen keiner so richtig, da ist mancherorts sogar von Auswirkungen der Wirtschaftskrise die Rede - für eine Zeit, in der noch keine Krise griff, geschweige denn existierte. Viel mehr spricht für eine Entwicklung, wie sie das Fernsehen längst vormacht. Mit dem Konflikt zwischen Marcel Reich-Ranicki, Elke Heidenreich und dem ZDF wurde die Misere zwischen Stromlinienform und Anspruch sichtbar.

Wir erleben die breit angelegte Verflachung einer übermächtigen Unterhaltungsindustrie, die speziell beim Medium Buch durch die Buchhandelskonzentration dazu führt, dass Autoren und ihre Werke zunehmend als Profitcenter betrachtet und danach ausgewählt werden. Kommt dazu, dass die Buchmesse 2008 neben dem vollmundigem Werbehype der großen Lesegerätehersteller nur noch mehr Verunsicherung gebracht hat: Die Angst vor dem E-book geht um wie anno dazumal die Kassandrarufe, die das Ende der Musik durch die CD beschworen. Ist das unsere schöne neue Buchwelt?

Realität ist heutzutage immer mehr eine virtuelle, gestaltet von Medien und denen, die am lautesten schreien. In die Öffentlichkeit findet das, wofür die größten Werbebudgets zur Verfügung stehen, was die schönsten Angstmeldungen produziert - sprich, wieder nur das, was mit größtem Profit verkauft werden kann. Dass in einer solchen Industrie die Angst vor elektronischen Medien und vor der angeblichen Konkurrenz der Computerspiele umgeht, ist nur zu natürlich. Wer sich nicht bewegt, muss Innovatives fürchten, muss Bedenken gegen "schnelle" Medien haben. Denn heimlich still und leise entwickelt sich um das Thema Buch längst eine Zukunftsmusik, die am allerwenigsten diejenigen produzieren können, die auf altbewährten Abklatsch und Wiederholungsproduktionen setzen.

Computerspiele und E-books: eine Konkurrenz?

Eigentlich müssten Computerspiele-Fans derzeit weinen, dass das Medium Buch das ihre hinterrücks unterwandert. Der gefeierte Spieleentwickler Peter Molyneux hat es vorgemacht, als er seine berühmten Gott-Simulationen schuf. Wenn er sagt, ihm sei die Psychologie der Figuren am wichtigsten und damit ihr Entwicklungspotential, das Gefüge von Entscheidungen innerhalb einer Handlung, dann löst er die eigene Autorenschaft auf und gibt sie den Spielern in die Hand. Seine Gefühle und das eigene Gewissen auf einer mythischen Reise auszuloten, die zum individuellen Abenteuer wird, bei dem man "Welt" beeinflusst, um schließlich durch jene erzählten Geschichten zu einer Läuterung und womöglich Selbsterkenntnis zu kommen, das ist das Wesen von Literatur. Molyneux ist Geschichtenerzähler. Und vielleicht ist er deshalb auf seinem Gebiet so innovativ, weil er keine Angst hat vor Überschneidungen und Durchdringungen unterschiedlicher Medien. Er lässt seine Spieler das tun, was mancher blutige Anfänger unter Romanschreibern mühsam in Seminaren pauken möchte: Plotten, Figuren mit Charakter schaffen - und das lebendige Beziehungsgeflecht des Romanhandwerks verstehen.

Umgekehrt bedienen sich Bücher fleißig bei der Spieleindustrie. Das herkömmliche E-Book, bei dem man ein für Print geschriebenes Buch einfach in Daten umwandelt und Papier in virtuelle Seiten, ist längst eine Totgeburt. Ganz nett für Manager mit Übergepäck, aber schon nicht mehr geeignet fürs Lesen am sandigen Strand sind in pdf oder andere Formate umgewandelte, einst gedruckte Bücher. So viel Technik für so wenig Nutzung ist schlicht stinklangweilig, alter Wein in neuen Schläuchen - denn hier werden die Möglichkeiten und Chancen der Technik vertan. Wenn schon "e", warum dann nicht einbinden, was das Internet längst kann? Verlinkungen nach innen und außen, Hördateien, Videozusätze, Anschluss fürs update. Hier liegt dann tatsächlich für einige gedruckte Bücher die Gefahr des Untergangs. Wer möchte in Zukunft noch einen in immens langen Zeiträumen produzierten Reiseführer auf Papier lesen, wenn er Hoteldaten und Adressen stets auf dem neuesten Stand haben könnte? Oder wäre die CD-ROM im Buch dann nicht angebracht?

Multimediale Bücher sind schon ein alter Hut

Gibt es alles längst - und das gedruckte Buch ist in jenen empfindlicheren Bereichen der Ratgeber erst dann wirklich bedroht, wenn sich die aktive Computernutzung in der breiten Bevölkerung durchsetzt und Bibliotheken wie etwa in Frankreich zu Mediatheken werden, die jedem freien Zugang zu allen Techniken schaffen. Autoren solcher Sachbücher machen sich besser jetzt schon mit neuen Techniken vertraut.

Multimediale Reiseführer haben das E-book-Lesegerät längst hinter sich gelassen. Sie kommen als CD-ROM oder DVD daher, bieten Videos, Spiele, Textinfos und eine eigene Linkbibliothek. Durch die Vernetzung mit dem Internet können solche "Bücher" up-to-date bleiben, die goßen online-Enzyklopädien machen es vor. Ähnlich funktioniert das große Genre der Lern- und Bildungsproduktionen für Kinder und Jugendliche, die dort abgeholt werden, wo sie am liebsten sitzen: vor dem Computer. Eine CD-ROM hat gegenüber dem Buch den Vorteil, dass sie viel größere Datenmengen viel billiger unterbringt und durchsuchbar ist. Wer sich je eine Klassikersammlung der digitalen Bibliothek zugelegt hat oder seine Geschichtstexte mit Original-Filmaufnahmen und Audiodateien genießt, weiß die Vorteile zu schätzen. Er weiß aber auch, dass es nicht den Tod des gedruckten Buchs bedeutet. Das nämlich kann man auch noch bei Stromausfall lesen und muss nicht um Kompatibilitätsprobleme mit neuen Betriebssystemen und Techniken fürchten. Noch ist Papier haltbarer als ein elektronisches Trägermedium. Ein von Gutenberg gedrucktes Buch ist heute noch lesbar. Die Datei aus Computeranfangszeiten nicht unbedingt.

Multimedialität hat es bei Büchern auch früher schon gegeben - nämlich bei den guten alten Blindenbüchern, der Vorform des modernen Hörbuchs. Damals las man noch mit billigen Stimmen Bücher auf Kassette ab und kein Sehender wäre je auf die Idee gekommen, ein Blindenbuch zu genießen. Heute genießen Blinde professionell gestaltete Hörbücher mit Sehenden gleichermaßen, die Qualität hat sich deutlich verbessert. Hörbuchproduzenten wetteifern um berühmte Stimmen, Sehende goutieren Hörbücher sogar beim Bügeln, Autofahren oder einfach entspannt zurückgelehnt mit geschlossenen Augen. Multimediale Bücher wenden sich längst nicht mehr nur an Blinde - Barrierefreiheit sorgt auch hier für völlig neue Verbindungen.

Das EU-Projekt Multireader spricht gleichermaßen Blinde, Sehbehinderte, Gehörlose und Hörbehinderte, aber auch Menschen mit Leseschwächen an - und der Anteil letzterer steigt. Was hier entwickelt wird, geht weit über die reine Versorgung von Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen hinaus - es bringt Menschen aller Wahrnehmungsformen in einem Medium zusammen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die zunehmende Nutzung solcher Ressourcen auch auf die Wahrnehmungsweise überhaupt auswirkt und in neuen Textformen ihren Niederschlag finden wird.

Die Sinneswonnen von morgen

Wenn Menschen Bilder hören können und Musik sehen, wenn sie Geschmäcker als Formen tasten und Gerüche als Farben wahrnehmen, so wurden sie früher für krank und verrückt erklärt und später immerhin nur noch für begabt und kurios. Der Neurologe Richard Cytowic stellte in seinen Forschungen dann eine bahnbrechende Hypothese auf. Er ist der Meinung, Synästhesie sei ein in der Urzeit überlebenswichtiger, allgemein angeborener Sinn gewesen und habe sich im Lauf der Evolution lediglich zurückgebildet, zumal man ihn kulturell vernachlässigt und schließlich unterdrückt habe. Was sich im Bereich "Multimedia" tut, hat natürlich nichts mit Synästhesie zu tun, denn man hat sie oder man hat sie nicht. Technisch lassen sich allenfalls Ahnungen von Sinnesüberschneidungen provozieren, aber Synästhesie ist nicht erlernbar.

Multimedia ist jedoch nicht nur für Synästhetiker interessant, sondern für alle, weil der Mensch ein Sinneswesen ist. Wir erfahren uns und die Welt durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Unser Hirn wird durch unterschiedlich genutzte Sinne erst so richtig lebendig. Je mehr Sinne und damit Emotionen gleichzeitig angesprochen werden, desto größer ist der Gewinn an Genuss, desto größer sind Lernfähigkeit und Erinnerungsvermögen. Warum diese Erkentnisse nicht auch für Bücher nutzen?

Vor allem an Universitäten experimentiert man längst mit neuen Formen, die e-Reader wie mittelalterliche Maschinen aussehen lassen. So haben Studenten des HPI-Instituts in Potsdam mit dem "Sophie Server" ein Onlineportal für Multimediabücher entworfen, das eine völlig neue Form von Bibliotheksverhalten erprobt. Multimediale Bücher werden mit einer genormten Software in wenigen Schritten entwickelt, Texte ergänzt durch Film, Sprache und Animation. Neu ist, dass Experten via Audiokommentar direkt Anmerkungen in die Bücher sprechen können. Studenten ermöglicht die Bibliothek, Bücher in Gruppen zu besprechen und zu bearbeiten - und zwar vernetzt von jedem Punkt der Erde aus.

Wie Science Fiction wirkt dagegen die Erfindung "Das lebende Buch", das aufgrund des technischen und finanziellen Aufwands nichts für Privatleute werden wird, sondern z.B. Museen und Firmen als Zielkundschaft anvisiert. "Das lebende Buch" besteht aus Papierseiten und einem Coverdeckel wie jedes herkömmliche Buch und unterscheidet sich nur dadurch, dass man es nicht von seinem Terminal heben darf. Der Leser wendet ganz normal die Seiten um, liest und wundert sich. Denn die Bilder vor seinem Auge bewegen sich und es gibt etwas zu hören (Leseprobe). Was man sonst im Reich Harry Potters vermutet, wird durch eine Spezialbeschichtung des Papiers und Filmprojektion möglich gemacht. Zukunftsmusik der besonderen Art, aber sie zeigt, dass eines Tages mehr denkbar sein wird, als wir uns heute vorstellen können.

Zukunftsproduktionen von heute

Viel bescheidener kommen Produktionen daher, wie sie bereits jetzt von innovativen Verlagen angeboten und weiterentwickelt werden. Noch sind die Anbieter alles andere als Mainstream, nicht selten stehen dahinter kleinere oder sehr junge Verlage. Aber sie machen von sich reden und die Dichte der Preisträger bei solchen Risikoprojekten, die goße Verlage noch scheuen, gibt zu denken. Während Multimediaverfahren auf CD-ROM und DVD bisher vorwiegend auf Sachtexte angewiesen waren, erobert der Wachstumsmarkt der Hörbücher die Belletristik. Bei herkömmlichen Hörbüchern wird ein bereits im Print erschienenes Buch, meist ein Roman, von einem Schauspieler gelesen oder von professionellen Sprechern als Hörspiel inszeniert. Wer sich mit den Unterschieden von gesprochener und geschriebener Sprache beschäftigt hat, kennt die Schwächen einer solchen Unternehmung: Nicht jeder gute gedruckte Text hört sich auch gut an.

Deshalb gehen einige Hörbuchverlage dazu über, ihr Medium intensiver in seinen eigenen Chancen zu nutzen. Das Publikum weiß es zu schätzen. Welcher herkömmliche Verlag hätte je zu vermuten gewagt, dass das Rilke-Projekt in seiner Verbindung von Dichterlesung und Musik zu einem solchen Erfolg werden würde, dass man in gleicher Manier ein Hesse-Projekt anbietet? Die beiden Macher wurden zunächst belächelt - bis ein Schallplattenlabel die zaudernden Verlage rechts überholte. Und prompt wurde eine ähnlich innovative Produktion aus dem Supposé-Verlag zum Hörbuch des Jahres 2008 gewählt: "Ein Sommer, der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit." Das Feuilleton überschlug sich, eine neue Gattung Buch wurde gefeiert, denn hier entstand aus dem Gespräch heraus in Echtzeit erinnerte Erzählung, hört man die Entstehung des fertigen Romans. Projekte, für die sich große Publikumsverlage nie hergegeben hätten, für die auch die Produktion von Hörbüchern billig, glatt und supermarktkompatibel laufen muss.

Wann ist ein Buch eine Schallplatte? Preisverleihern ist das mittlerweile ziemlich egal, der Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik 2008 ging an den kleinen, aber feinen Silberfuchs-Verlag für ein einzigartiges Konzept. Bei Silberfuchs kann man nämlich "Länder hören". Es gibt Mythen und Geschichte, Biografien und Ereignisse, Literatur und Musik unterschiedlicher Länder als Hörerlebnis auf die Ohren. Dabei gehen nicht nur Sprache und Musik eine enge Verbindung ein, es wird auch das große Erzählen wiederentdeckt, die Authentizität von Augenzeugenberichten, die Kraft gesprochener Sprache.

Der HörBild-Verlag geht einen Schritt weiter in Richtung CD-ROM. Bisher für HörBilderbücher bekannt, wagt er sich in diesem Jahr an ein außergewöhnliches Projekt. E.T.A. Hoffmanns "Die Automate" wird als "illustriertes Hörbuch" erscheinen, eindimensional hörbar im CD-Player, multimedial zu sehen und zu hören im Computer. Außergewöhnlich ist dabei, dass das klingende "Bilderbuch" nicht nur durch die Qualität der künstlerischen Illustrationen besticht, sondern sogar Hoffmanns märchenhafte Instrumente hörbar machen wird (Hörprobe derzeit nicht online).

Fazit

Eines ist gewiss: Das gedruckte Buch wird nicht sterben, es wird ergänzt werden. In bestimmten Sachbuch-Genres könnte es durch bessere technische Möglichkeiten zwar eng werden, aber der Mainstreammarkt der billigen Papierlektüre von Romanen braucht aufgrund des technischen und finanziellen Aufwands nichts zu befürchten. Multimediabücher sind sehr viel teurer in der Herstellung als gedruckte Ware und erreichen noch nicht deren Massenauflagen.

Die Wiedererfindung des Erzählens und die Rückbesinnung auf mündliche Erzähltechniken könnte jedoch umgekehrt das geschriebene Buch beeinflussen und auch buchferne Mediennutzer wieder an "ganz normale" Romane heranführen.

Während der Buchmarkt auf der herkömmlichen Seite enger wird, steigt die Textproduktion bei Multimedia sprunghaft an - bis hin zu schreiberischen Einflüssen in der Spieleentwicklung der Computerindustrie. Doch Schreiben ist nicht gleich Schreiben. Ein zu hörender Text muss anders konzipiert werden als einer, bei dem man zurückblättern und nachlesen kann. Wer mit Musik textet, muss zumindest Gespür für Musik haben, wer Audio oder Video in Texte einbindet, braucht Kenntnisse in multimedialer Dramaturgie. Zwar wird es in Zukunft mehr Textermöglichkeiten für Autoren geben, zwar werden Fachautoren vielleicht sogar gesucht werden, doch werden sich Autoren auch ungleich stärker als bisher fortbilden und ausbilden müssen. Multimediales Schreiben will gelernt sein.

Darüberhinaus verändert die Multimedia-Industrie auch die wirtschaftlichen Bedingungen, so dass Entlohnungkonzepte neu überdacht werden müssen. Dr. Walther Umstätter von der Humboldt Universität in Berlin stellte im Spektrum der Wissenschaft fest: "Ohne jede Übertreibung kann hier von geistigem Raubrittertum und von Anarchie im Informationsmarkt gesprochen werden. Bis in die Wissenschaft hinein konnten wir in den letzten Jahrzehnten massive Versuche der politischen und industriellen Einflußnahme beobachten, die Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit im Wissenschaftsmanagement gefährden." Das muss sich ändern, damit Autoren auch morgen noch von ihrer Arbeit leben können und damit unzensierte Qualität von Informationen gewährleistet bleibt, so beschreibt er in seinem Artikel die Zukunft des Buches und der Bibliotheken.

(c) by Petra van Cronenburg, all rights reserved
Die Autorin entwickelt derzeit ein Sprach-Musik-kombiniertes Hörprojekt für den Verlag Der Diwan, das im Herbst 2009 erscheinen soll.

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