Alle Jahre wieder

Es geht wieder los. Ich bin als eine bekannt, die sich Rummel, Stress und Konsum an Weihnachten konsequent verweigert. Und während man sich hier in Frankreich die Crise de Foie, die Leberkrise, anfrisst, packe ich lieber meinen Rucksack und meinen Hund für einsame Bergwanderungen. Herrliche Tage, um das vergangene Jahr Revue passieren zu lassen und sich Gedanken zu machen, wie man das nächste gestalten will. Im familienzentrierten Frankreich gelte ich deshalb offiziell als eine Verrückte, eine Ausgestoßene. Hier auf dem Land fühlt sich das manchmal an, als sei man die Dorfhexe, weil man einen Leberfleck hat und das Leben genießt.

Und dann kommen sie plötzlich heimlich. So wie man sich früher zur Dorfhexe geschlichen hat, weil es der Mann, die Kinder, die Eltern nicht wissen durften. Auf den ersten Blick suchen sie Rat. In Wirklichkeit Erlösung. Jedes Jahr machen sie mich zur Zuschauerin ihrer Abgründe, ihrer Kleinkriege und Verzweiflungen. Heimlich, hinter der Fassade, gestehen sie ihre Angst vor dem Fest, vor der gespielten Liebe. Zum Pfarrer können sie nicht mehr, entweder haben sie längst ihren Glauben verloren oder der. Du hast doch mal Seelsorger gelernt... Kann man das lernen, sich um Seelen zu sorgen?

Der eine hat seine Frau verlassen. Am Tag vor Heilig Abend. Sie haben sich schon lange nicht mehr richtig ausgehalten, aber unterm Weihnachtsbaum gibt es kein Entrinnen. Da blieb nur die Flucht nach vorn. Und dann brechen die Schleusen, weil man ja emotional sein soll in diesen Tagen, und es spült ein ganzes Leben hervor von inneren Qualen. Redlich hat er sich abgestrampelt, immer funktioniert - und so hat er sich die Kräfte aus dem Leib herausgestrampelt. Hat nie innegehalten, weil immer irgendwer irgendwas von ihm verlangte. Wie machst du das, dass du einfach dein Leben lebst, fragt er.

Da ist eine, die in meinen Augen märchenhaftes, gemütliches, traditionelles Weihnachten feiert, geborgen im Kreis einer Großfamilie. Wie im Film sieht es bei ihr aus, wie man sich als ganz kleines Kind Weihnachten noch vorstellte, bevor das große Nachdenken kam. Manchmal beneide ich sie fast, weil ich diese Idylle nie kannte und ich denke: Wie muss das schön sein, wenn man solch einen dekorierten Traum wirklich spüren kann. Und dann kommt sie, bevor die Familie eintrifft, atmet schwer und klagt. Dass sie nicht mehr weiß, woher die Kraft nehmen, dass es ihr jedes Jahr schwerer fällt, das Glück und die allumfassende Liebe aufrechtzuerhalten. Dass sie sich so sehnlich wünscht, ein anderer würde einmal die Foie Gras bereiten und am Kochtopf stehen. Dass sie nach den Festtagen erschöpft ist und leer, mit einer unbestimmten Angst im Bauch vor dem nächsten Fest. Denn sie kauft ganzjährig Geschenke vor, um an Weihnachten nicht mit leeren Händen dazustehen. Wie machst du das nur, dass du auf die Gans verzichten kannst? Und man muss doch schenken, sonst sind doch die anderen enttäuscht!

Wenn Weihnachten anfängt und die Läden schließen, muss ich aufpassen, dass ich nicht zum Mülleimer werde. Manche laden ihren Seelenmüll schnell mal ab, wie man sich nach dem Festtagsbraten den Mund mit der Serviette abwischt. Das Schlimme aber ist, dass die meisten innerlich echt verzweifelt sind, nicht mehr aus noch ein wissen. Die kitschigen Fassaden zeigen ihnen die Risse im eigenen Gebälk nur um so deutlicher. Der Leistungsdruck, jetzt ganz besonders funktionieren zu müssen, lässt manche zusammenbrechen, nicht selten reif für die Klinik. Und dann der Erwartungsdruck...

Der erwartet das von mir. Die erwartet aber, dass ich... Wenn ich das nicht tue, sind sie enttäuscht. Ich muss so sein, damit sie mich lieben. Ich erwarte ja auch...
Wie machst du das?

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich habe nur diese verrückte Ansicht, dass Liebe gleich welcher Art mit Erwartungen nichts zu tun haben darf. Man sagt oft, ein Tier empfinde die reinste Liebe zu einem Menschen. Da ist was dran. Ein Tier ist nämlich einfach da. Es liebt. Bedingungslos. Und das ist der Punkt: Bedingungslos heißt, dass weder die Erwartungen des einen noch die des anderen eine Rolle spielen dürfen. Das ist einfach gesagt, Menschen sind ja bekanntlich viel fieser geboren. Mit Erwartungsdruck lässt sich nämlich so herrlich Macht ausüben. Der Wolf beißt seinen Kontrahenten kurz weg und es ist gut. Der Mensch tritt nach. Manche sind gerade an Weihnachten wahre Meister in der Kunst der emotionalen Erpressung, dieses perfiden Spiels mit dem Schuldbewusstsein.

Und dann suchen die, die es nicht mehr aushalten, die es zerstört, Erlösung von ihren eingeimpften oder selbst antrainierten Schuldgefühlen, als sei Ostern. Wie soll ich es anders machen? Die anderen wollen doch von mir... Ich schaffe es nicht...

Wenn man nicht gleich wagt, etwas anders zu machen, kann man sein Leben umschreiben. Schreiben als Testlauf für den Ernstfall. Warum nicht sich einmal für eine Stunde zurückziehen, sich die Ruhe gönnen, die jeder braucht - und seine ganz eigene Weihnachtsgeschichte schreiben? Nicht die, die abläuft. Sondern die umerfundene. Was passiert, wenn ich wage? Was passiert, wenn ich mein Leben lebe und nicht das der anderen? Was passiert, wenn ich meine Bedürfnisse und Grenzen äußere, anstatt mich dem unterzuordnen, was andere von mir erwarten? Was passiert, wenn ich agiere statt immer nur zu reagieren?

Was soll ich denn da schreiben? Na ja, stell dir vor, was wäre, wenn du rechtzeitig vor dem Fest sagst, dass du keine Kraft hast, die Familie zu beköstigen. Wie wäre es, wenn du darum bittest, dass jemand anderes kocht? Oder stell dir vor, ihr teilt euch die Aufgaben, die Festorte? Schreib dein Wunschweihnachten auf! Wie sähe es aus, wenn du wirklich ganz und gar frei wärst? Vielleicht verlässt du deine Frau nicht einfach holterdipolter? Warum schreibst du nicht stattdessen einen Weihnachtsbrief, zunächst nur für dich ganz allein - in dem du nachdenkst, was in diesem Jahr alles falsch gelaufen ist? Kannst du eine Geschichte entwerfen, in der es mit euch funktionieren würde? Was müsste sich verändern? Was geschehen ist, ist geschehen. Aber wenn man die Geschichte einfach umerfindet, kann man verblüffend neue Geschichten entdecken... Geschichten verändern ihre Protagonisten. Und Veränderung birgt Chancen.

Wirklich, ich gebe das im Moment jedem als Hausaufgabe, der sich bei mir ausweint. Weil ich glaube, dass man sich selbst erlösen muss, auch wenn es weh tut und Mühe macht. Es lässt sich nur lieben, wenn man "ganz" ist, eine eigenständige, unabhängige Persönlichkeit, die sich befreit von lebenserdrückenden Erwartungsspielchen. Liebe geben zu können, wenn es keiner erwartet - sich Ruhe und Besinnung zu gönnen, wenn die anderen anderes erwarten - das ist wirklich ein Geschenk. Weil es bedingunglos von Herzen kommt.

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