Lesen für die Hydra

Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass die wirklich großen oder interessanten Schriftsteller ihre Erfahrungen mit dem Schreiben nicht in Ratgebern für wohlfeile Instantromane hinterlassen haben, sondern in ihrer Literatur und manchmal auch in Briefwechseln oder Tagebüchern. Vielleicht, weil sie wussten, dass jenseits jeder allgemeingültigen Essenz das Schreiben nur ein höchst individueller Vorgang sein kann? Insofern lohnt es sich, auch unter dem schriftstellerischen Gesichtspunkt öfter Klassiker zu lesen.

Einer von ihnen - Anton Tschechow - hat mich mal wieder gepackt, diesmal mit einem Titel. Wer eine Erzählung mit "Eine langweilige Geschichte" überschreibt, die gleich im ersten Satz vor feiner Ironie sprüht, der sucht sich offensichtlich seine Leser aus für etwas Besonderes. Tatsächlich kann man sie auf zwei Ebenen lesen: als Geschichte des ruhmbeladenen Professors Nikolaj X. oder als eine Sammlung von Andeutungen und Erfahrungen aus dem Berufsleben des Schriftstellers Anton T.

So macht sich der Professor Gedanken über das richtige Vorlesen:
"Um gut, das heißt nicht langweilig, sondern gewinnbringend für die Hörer zu lesen, muss man außer Begabung auch Geschicklichkeit und Erfahrung besitzen, muss man eine ganz klare Vorstellung von den eigenen Kräften, von den Menschen, für die man liest, und vor allem von dem Gegenstand haben, den man behandelt. Außerdem muss man umsichtig sein, die Zuhörer genau beobachten und keinen Augenblick außer acht lassen."

Die langweilige Figur der langweiligen Erzählung vergleicht den Lesenden mit einem Dirigenten vor der Partitur, der - modern gesprochen - immense Multitasking-Aufgaben vollbringen muss und nicht einfach nur wiedergibt. Das Publikum wird zur vielköpfigen Hydra, die besiegt werden will, indem man genau auf sie eingeht, sie packt, sie verzaubert. Und selbst die Horrorvisionen missglückten Lesens sind dem Professor nicht fremd:

"Mein Mund wird trocken, die Stimme heiser, der Kopf dreht sich mir ... Um meinen Zustand vor den Hörern zu verbergen, trinke ich jeden Augenblick Wasser, huste, schneuze mich oft, als ob mich ein Schnupfen störe, mache unpassende Witze..."

Nicht nur diese Passagen sind für Autoren alles andere als langweilig zu lesen. Plötzlich werden die Studenten zum Synonym für Nachwuchsautoren. Oder ist es nur Zufall, dass da einer sich nicht selbst entwickeln will, sondern den Meister um ein gut verkäufliches Thema und Anleitung bittet - und sich wundert, dass ihn dieser deshalb für seine Kunst abschreibt? Ist es nur eine scheinbare Parallele, dass der Professor von einem Leidenschaft, Hingabe und Disziplin verlangt und ihn anbrüllt: "Warum wollt ihr nicht selbständig sein? Warum ist euch die Freiheit so zuwider?" Selbst die Ausführungen des Langweilers über das Theater lassen sich in ihrem ironischen Blick auf das heutige Unterhaltungsgewerbe übertragen.

Lesetipp:
Eine langweilige Geschichte, aus Anton Tschechow: Die Dame mit dem Hündchen und andere Erzählungen, insel taschenbuch mit Zeichnungen von András Karakas, ISBN 3-458-31874-7

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