Genuss war gestern

Für diesen Beitrag werden ich ganz sicher Social-Media-Prügel beziehen. Ich hatte schon mal übers Essen und einen Einkaufsbummel in Deutschland gebloggt und bekam heftig Haue, weil ich "mein Land" so schlecht gemacht hätte. Disclaimer also vorweg: "Mein Land" ist Frankreich, seit 1990 bin ich nämlich Migrantin, also Immigrée, und damit auf voller Gourmetlinie ein für alle mal versaut. Wobei ich urige Landesküchen durchaus liebe, ob Elsass, Afrika oder Indien, Polen oder Bayern. Dabei probiere ich grundsätzlich alles, was mich nicht frisst, und habe in meinem Leben nur ein einziges Mal dankend verzichtet: auf Schafsaugen bei einem Syrer in Warschau. Die guckten mir zu neugierig. Und natürlich mag ich Essen, dass auch lustig durch die Weltgeschichte migriert, so dass sich alle als Erfinder brüsten: der österreichische Guglhupf wurde zum elsässischen Kugelhopf - und wie viele Regionen wollen das beste Sauerkraut auf Erden entwickelt haben?

Ich brauchte Zucker. Ich brauchte Koffein. Und ich schäme mich jetzt noch, so einen Dreck gekauft zu haben!

Ich entschuldige mich also weder für meinen Geschmack noch für meine Vorlieben, für dieses Foto schon. Wenn ich bei der unerträglichen Hitze lange ohne Essen unterwegs bin, brauche ich schnell Koffein nebst Zucker im Blut. Und ich dachte, jetzt probiere ich auch mal dieses "stylische" Zeug, das sie auf deutschen Parkplätzen so genüsslich schlürften. Auaauaua!!! Nie! Wieder!

Zum Glück war die Brühe kalt. Genau so stelle ich mir mit Algen angedickten Klärschlamm nach zig Filterungen vor, der mit Zucker aufgepeppt wird - 23 g im Becher - das sind irre 7,7 Würfel, unglaublich! Wo die 7% Salz herkommen, möchte ich besser nicht wissen, aber das soll ja gut sein, wenn man viel schwitzt, und vielleicht sollte es auch nur den Kaffee ersetzen? Tatsächlich waren übrigens Algen drin: Carrageen sorgte für den lange anhaltenden Zungenschleim. Der Becher für Umweltmüll. Aber derart gedopt habe ich dann die Einkaufstour lebend überstanden. (Und das nächste Mal wird das wieder die gute alte Cola oder ich braue mir den Espresso in der Thermoskanne.)

Ich war also nach recht langer Zeit zum Einkaufen in Deutschland, eingestimmt durch reichlich Eierskandal im Radio. Nach solchen Ruhephasen bemerkt man Veränderungen. Und als "Ausländerin" fahre ich ja nicht nur über die Grenze, weil's viel billiger ist (jaja, die bösen, bösen Grenzgänger), sondern weil ich sehr schräge Dinge brauche, die ich in Frankreich nicht bekomme. Kindheitsprägungen suchen Migranten manchmal heim, wie bei Schwangerenwitzen bekommt man Gelüste, die der eigene Verstand nicht fassen kann. Und so bin ich wahrscheinlich die einzige im Laden, die trotz der französischen Käsevielfalt daheim hier verschämt nach Tilsiter greift, weil der so lustig buttrig schmeckt. Die ungarische Salami kauft, obwohl die schon lange nicht mehr so gut ist wie in meiner Kindheit. Wenn ich dann mit leuchtenden Augen nach Dr. Oetkers Paradiescreme greife und mir einen Vorrat hole, schauen mich die Leute tatsächlich an, als sei ich ein Alien. Warum glotzen sie nicht genauso, wenn ich Lauchzwiebeln baggere? Gibt's bei uns nicht, jedenfalls nicht die. Genauso wenig wie all das herrliche gesäuerte Milchzeug: Buttermilch, Kefir, Dickmilch.

Hat sich dann der kindgewordene Alien genügend versorgt, schaut sie sich mit extraterrestrischem Blick um. Und da staune ich dann sehr. Irgendwo gab es ein Regal mit laktosefreiem Zeug. Und genau darüber war ein Regal mit Laktosepillen, Laktosepülverchen, Laktoselebensverlängerungsschnickschnack. Das muss einem ja als Ausländerin echt mal erklärt werden: Rührt man die Pülverchen direkt in das laktosefreie Zeug ein? Oder ist das Trennkost? Als faules Landei griff ich natürlich zum Tetrapack, in dem alles auf einmal drin ist, was aus einem Kuheuter kommt. Die Kühe hatte ich unterwegs übrigens überall gemütlich wiederkäuend auf den Weiden gesehen und hätte sie zu gern für diesen Beitrag fotografiert. Aber in Haarnadelkurven am Berg hält es sich so schlecht für Kuh-Selfies. Schade, denn irgendwo vergnügte sich auch ein Stier auf einer Kuh, sieht man nicht mehr alle Tage.

Dann war da noch etwas, was ich nicht verstand. Mit Eiern war's wohl nix laut Radio. Gammelfleisch hatte es auch schon gegeben. So richtig pure, unverfälschte Grundnahrungsmittel muss man zwischen Conveniencefood und Junkfood richtig suchen. Ach ja, ich hatte auch noch nie so viel Plastikmüll, Plastiktüten und Blister, schaurig. Könnte das vermeintliche Müllvermeiderland nicht mal vom Nachbarland lernen, dass es ohne geht?

Wo war ich stehengeblieben? Ach ja ... Gourmet und so. Unverfälschte Lebensmittel von höchster Qualität. Darf ich mich mal kurz räuspern? Nein, die Deutschen scheinen sich neuerdings von ganz etwas anderem zu ernähren! Reihenweise "Superfood" lag da herum, das die kleine Außerirdische ein wenig an gehackte Marsianer erinnerte und an Astronautennahrung. Außerdem palettenweise Chiasamen, trocken oder gequollen, rieselnd oder schleimig, Singlepackung oder Astronautengroßpackung für einen Flug bis mindestens bis zum Saturn. (Hoffentlich merkt jetzt auch der Letzte, dass ich maßlos übertreibe und beim Schreiben kichere!) Gibt's bei uns (noch) nicht. Was die wohl damit machen, fragte ich mich. Kann man damit ökologisch Wäsche waschen (das Waschmittel war so weit weg nicht)? Sind die schleimigen für Einläufe? Oder pflanzt man die zum hippen Bienenschutz in den Garten und die tragen nachher Geldscheine? Teuer genug ist ja auch das "Super Food Topping", das ich in meinem Deutschwörterbuch leider nicht finden konnte.

Natürlich kamen dann noch reihenweise alle möglichen Nahrungsmittel, die eigentlich gar nicht mehr richtig welche waren, weil man ihnen irgendwelche Hauptbestandtteile amputiert hatte: Gluten, Laktose, Fett, Zucker, Steinzeitkalorien oder alles, was nicht naturidentisch schien. Dahinter folgten reihenweise Nahrungsergänzungsmittel. Siehe oben, die Laktosetabletten zur entmilchten Milch. Die teuren Alpha- und Omega-Öle zum entfetteten Fett. Oder dreifach gehypter Intelligentzucker mit querdrehender Milchsäure ... pardon, der Alien schnappt über, muss am Kaffeeersatz aus Algenklärschlamm liegen.

Ich bin dann ziemlich lustig heimgefahren. Und triefte vor Mitleid. Ich hatte auf einmal so schreckliches Mitleid mit all diesen Leuten, die sich offenbar so krank gefressen hatten, dass sie nur noch dank Superfood und Nahrungsmittelbestandteilen in Pillenform überleben können. Fast weinte ich, denn das Hundefutter in meinem Auto schien mir um so vieles natürlicher: Lamm und Reis. Getrocknete Tierhaut. Rinderohren. Da weiß man, was man hat! Hach ... und erst der Espresso, den ich hier während des Schreibens süffle! Feinster Arabica von der Straßburger Rösterei, mit zwei kleinen Löffelchen unraffiniertem, braunen Zucker. Wie sich das gehört. Und als nächstes Gesellschaftsexperiment kredenze ich französischen Freunden einen "Hugo" und bin mal gespannt, ob sie sich beim Trinken verfärben!

Ich gebe zu, ich war schon versucht, diese Chiasamen in der Version "extraschleimig" zu kaufen, weil ich dachte, das müsse eine prima Gesichtsmaske abgeben. Aber Quark und Gurkenscheiben waren dann doch billiger. Und ökologisch sinnvoller. Was ich heute abend esse? Keine Paradiescreme, mein Zuckerbedarf ist für eine Woche gedeckt. Etwas Roggenbrot mit Butter, Spitzpaprika und Lauchzwiebeln. Und jede Menge Brombeeren vom Strauch. Monsieur Hund ist bereits glücklich - die Pansenstange war verdächtig schnell weg.

Etwas leckerer als in diesem Beitrag geht es übrigens in meinem Buch zu: Elsass. Wo der Zander am liebsten im Riesling schwimmt. Ich habe noch wenige Exemplare des Hörbuchs, die ich persönlich signiert verkaufe.

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