Durchgeknallt?

Gestern ist einer "durchgeknallt". Nicht in München, sondern irgendwo in einem idyllischen deutschen Mittelgebirge. Eine Bekannte arbeitet in einer psychiatrischen Klinik und bekam einen "Dauergast" zu sehen, der ungefähr ein, zwei Mal im Jahr vorbeikommt, um sich die Medikamente wieder genau einstellen zu lassen. Oder eben wie gestern, wenn er wieder überlaut Stimmen hört und eine akute Psychose droht. Manchmal hat er solche Angst vor der Hilfe, dass es zu spät und der Aufstieg aus der Verwirrung ein langwieriger ist. Oft sorgen Angehörige mit dem Arzt in liebevoller Kleinarbeit dafür, dass er einer Einweisung zustimmt. Einmal hat eine Zwangseinweisung sein müssen, weil Selbstgefährdung vorlag. Diesmal aber hat er es ganz alleine geschafft, für eine Notfall-Erstversorgung vorbeizukommen. Ein Sieg gegen die Krankheit! Ihm wird dieser Schritt zunehmend schwerer. Nicht, weil die Therapie nichts taugen würde oder die Stimmen dazwischenreden würden. Schlimmer.


Es wird ihm schwerer, weil er immer mehr Angst vor seiner Umwelt entwickelt. Vor Menschen, die sich nicht liebevoll und beruhigend verhalten. Vor Menschen, die ihn stigmatisieren als einen "Bekloppten", einen "Durchgeknallten" und was es da an unbedacht hingerotzten Bezeichnungen vor allem in Social Media gibt. Er hat Angst vor Menschen, die über ihn lachen, die "so einen" nicht in ihrem Haus, nicht in ihrer Stadt haben wollen. Wir könnten uns diese Angst gar nicht vorstellen, so existentiell sei sie, sagt meine Bekannte. Gegen Social Media könnten sie etwas tun, sagt sie: Internet ist in der ersten Phase aller Therapien schlicht verboten. Sie würden manchmal schon mit den Ärzten witzeln, weil es sonst kaum auszuhalten sei: "Wenn dir ein Schizophrener sagt, die Amerikaner würden einen Verrückten wählen, der irgendwann Bomben werfen wird, wie machst du dem heutzutage klar, dass er in der Psychose ist und nicht die Realität beschreibt?" Früher sei es so einfach gewesen zu unterscheiden, wann einer "unterm Aluhut" sprach und wann einer nur wie ein Seismograph für eine "irre" Zeit wirkte. So viele Sensible in der Klinik, so viele intelligente Menschen, deren Seele einfach manchmal nicht mehr kann. Und immer diese nackte Angst. Diese Alpträume, dass irgendeine Macht die Welt zerstöre.

Es würden mehr, sagt meine Bekannte. Leute, die früher vielleicht nie krank geworden wären. Die Arbeitswelt spuckt die Tüchtigsten von ihnen aus: Burn Out und Depression sind zwei Diagnosen, deren Grenzen fließend ineinander übergehen und von der zumindest die erste wissenschaftlich noch gar nicht gefestigt ist. Früher seien vor allem die Topmanager eingeliefert worden oder Menschen, die bei Katastrophen oder Unfällen vielleicht die gesamte Familie verloren hatten. Das stehe keiner alleine durch. Da gehe die Seele erst einmal auf Tauchstation, bis ihr genügend Kraft von außen eingeflößt wird. Manche zerbrächen ganz, löschten sich irgendwann aus. Den meisten könne mit viel Geduld in ein neues Leben geholfen werden. Heute kommen nicht mehr nur Führungspersönlichkeiten, sondern auch Lehrerinnen, Handwerker, Kinder, Krankenschwestern, Polizisten.

"Weil die Erschöpfung vor keinem Halt macht", sagt meine Bekannte, "weil sich Angst wie ein Virus verbreiten kann. Wie willst du deine seelische Gesundheit behalten, wenn alles um dich herum durchzudrehen scheint, überhitzt hohl dreht, draufhaut, spuckt ... und immer auf diejenigen zuerst, die am meisten Kraft oder Zuwendung bräuchten?" Das fragt sie mich und ich habe auch keine wohlfeile Antwort. Ist einer verrückt, wenn er unfassbaren Ideologien nacheifert? Ist einer gefährlich, nur weil er Stimmen hört? Und gibt es diese totale Sicherheit wirklich, von der uns manche Politiker glauben machen wollen, für die sie demokratische Freiheit aushöhlen? Das will ich von ihr wissen, der Fachfrau.

Sie lacht und hat eine zynische Antwort, weil es sie zynisch macht, dass die ganze Welt nicht nur zuschaut, wie offensichtlich an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung oder Borderline erkrankte "Führungspersönlichkeiten" nicht in Therapie geschickt würden, sondern diese auch noch in wichtige Positionen setzt und gar anhimmelt. "Die totale Sicherheit hast du vielleicht in einer Gummizelle", meint sie, "aber so etwas haben wir ja selbst in der Psychiatrie schon lange nicht mehr."

Und dann zitiert sie Manfred Lütz mit dem Untertitel seines Bestsellers "Irre": "Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen." Nein, wer einer Ideologie und Gurus oder Hetzern, Hassern nachrennt - und seien die noch so unfassbar, nicht nachvollziehbar - der ist nicht zwingend psychisch krank. Gegen Dummheit und Verblendung ist auch heute noch kein Psychopharmakon gewachsen. Und weil man beides mit klarem Kopf und bei voller psychischer Gesundheit trotzdem zelebrieren kann, kennt der Rechtsstaat die Unterscheidung der Zurechnungsfähigkeit. Wer sich etwa gezielt in Lagern zum Morden ausbilden lässt, ist zurechnungsfähig, ergo voll verantwortlich. Wer Flüchtlingsheime ansteckt und kein Pyromane ist, kann sich nicht auf Krankheit berufen, sondern allenfalls aufs falsche Parteibuch. Wir mögen das Gedankengut solcher Leute für noch so "irre" halten - diese Leute zählen zu den Normalen und sind genau deshalb umso gefährlicher. Wenn wir sie als verrückt, geisteskrank oder psychisch krank bezeichnen, schaden wir denen, die wirklich krank sind. Wir schaden ihnen, weil die überhitzt emotionale Gesellschaft sie zunehmend ausgrenzt, hasst. Und wir reden klein, was gefährlich ist: die ideologische Verblendung von "Normalen".

Die wenigsten psychisch Kranken seien wirklich gefährlich, versichert meine Bekannte. Es gäbe nur minimale Mengen sehr eindeutiger Fälle wie beim Psychopathen. Selbst der käme im Fernsehkrimi viel häufiger vor als in der Realität. Aber ansonsten habe auch die sogenannte Fremdgefährdung eine lange Vorgeschichte im Leben eines Betroffenen. In unsere modernen Gesellschaft, so meint sie, müsse es oft gar nicht erst so weit kommen. Wenn die Menschen sich dessen bewusster wären. Wenn sie sich eher kümmern würden. Wenn sie offen darüber reden würden. Wenn sie um Hilfe bitten würden. Immer mehr tun es nicht, sagt sie, aus Angst. Angst vor dem Stigma, mit dem eine Gesellschaft, die Angst vor dem "Verrücktsein" hochkocht, nicht nur Betroffene, sondern ganze Familien belegt.

Angst, immer und überall diese Angst. Der Betroffene dreht vielleicht durch, weil er die Angst, den inneren Abgrund, die alptraumhaften Untiefen seines Lebens nicht mehr aushält. Die Angehörigen und Freunde schämen sich, haben Angst vor den "anderen". Die Anderen haben Angst vor dem Anderssein und verbreiten diese Angst, werfen sie wie einen dunken Mantel auf alles Erreichbare.

"Was hilft gegen die Angst?", will ich wissen.
Eigentlich könne mir das jede Krankenschwester, jeder Pfleger beantworten, meint sie, denn es sei so einfach. Aber heutzutage offenbar so schwer. Der Mensch sei doch dafür gemacht, für diese Mittel gegen die Angst!
Mehr Liebe. Mehr Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gegenüber Mitmenschen. Mehr Solidarität. Ruhe bewahren. In Farben denken statt in Schwarz-Weiß.
Aber es stimmt mich nachdenklich, was meine Bekannte dann erzählt. Von immer weniger Mitteln und Ressourcen im Gesundheitssystem, obwohl die Psychiatrie immer wichtiger werden wird, auch in Bezug auf Erschöpfungs- und Zeitkrankheiten. Krank werden an der Zeit - auch das gibt es. Von Problemen, über die niemand sprechen will: von Kindern ohne Kindheit, von Jugendlichen mit brutalsten Gewalterfahrungen, von all den Traumatisierten, die man zunehmend sich selbst überlässt, weil Therapieplätze sowieso fehlen. Oder die man noch zusätzlich und vorsätzlich traumatisiert, weil man sie an den Grenzen in Ungewissheit und Slums schmoren lässt, unfähig zu menschlichen Lösungen. Eigentlich schon gestern müsste man massiv für Nachwuchs in therapeutischen Berufen sorgen, für ordentliche Arbeitsbedingungen und genügend Mittel. "Willst du wissen, warum unser 'Stammkunde' wieder so schlecht drauf war?"

Ich hätte es mir fast denken können. Ein Psychoseschub im Anmarsch und niemand erreichbar am Freitag abend. Der einzige Psychiater für eine mittelgroße Stadt schaltet ab 17 Uhr auf Durchzug, dem psychosozialen Dienst hat man massiv Stellen gestrichen. Im Krankenhaus kann man nur bedingt mit solchen Fällen umgehen und kennt sie vor allem nicht persönlich. Zu wenig Fachkräfte auch dort, wenn überhaupt mal ein Psychiater Dienst hat. Die Familie unerreichbar im Urlaub. Freunde hat der Mann schon lange keine mehr und die Leute im Haus betrachten ihn misstrauisch - "so einen" wollen sie bei der erstbesten Gelegenheit loswerden und sie ahnen nicht, dass auch "so einer" das fühlt.

Der Mann hatte Glück im Unglück. Es gab in seinem Leben wenige Menschen, die ihn nicht abgestempelt haben, sondern ihm tätig beistanden. Die alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, dass er Zutrauen fassen kann, dass die Angst immer wieder verschwindet. Vertrauen in die Klinik und das Personal tun ihr übriges: Er versteht sie inzwischen als Sicherheitskapsel vor der Welt. Wenn es schlimm wird, weiß er: dort findet er Ruhe vor der Gesellschaft. Und irgendwann werden dann die Stimmen wieder leiser und das Leben geht weiter. Zwischen die Alpträume schiebt sich ein zaghaftes Lachen. Ein kleines nettes Erlebnis. Das Lächeln eines Menschen. Vorsichtiger Kontakt zu anderen Menschen.

"Wenn wir die Erinnerung an dieses Positive wieder auslösen können, ist viel gewonnen", sagt meine Bekannte. "Und wenn die Menschen sich früher gekümmert hätten, weniger ausgegrenzt und verlacht oder gehasst hätten, dann wäre die Bereitschaft zur Therapie vielleicht eher dagewesen." Gegen die Krankheit an sich könne man nichts tun, das weiß auch sie, aber der Verlauf bei den Symptomen hängt eben nicht nur von Medikamenten ab, sondern auch von der Umwelt. Ja, manchmal gäbe es auch die ganz wenigen sehr tragischen Fälle. An die niemand mehr herankomme. Wo alles zu spät ist. Bei denen eine lange Entwicklung oft einfach nicht erkannt wurde. "Vielleicht, weil unsere Gesellschaft sich selbst manchmal so 'verrückt' verhält", sagt sie nachdenklich und setzt hinzu: "Und wenn Leute wie Trump, Erdogan oder Johnson öffentliche Verantwortung angetragen bekommen - wer will dann wirklich noch erkennen, wer therapiebedürftig wäre und wer nicht?"

Als wir das Gespräch führen, wissen wir nicht, was in München passiert ist. Wir sind offline, im Freizeit-Modus, fernab vom Lärm der Welt, die höllisch aufpassen muss, dass nicht "Angst essen Seele auf".

Lesetipp: "Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos". Das Portrait eines psychisch kranken Weltstars, der tragisch zerbrach. Mit einem Beitrag über Outsider Art - die Kunst von psychisch Kranken.

Spenden in die Kaffeekasse gehen diesmal voll an meinen Assistenten Bilbo Möchtegern-Beagle: herrlich stinkendes Kauzeug!

update - Lesetipps:
Angesichts der aktuellen Lage, die meinen Blogbeitrag sehr unglücklich überholt hat: In der Kriminologie gibt es den Begriff des Nachahmungstäters - vor allem Amokläufer studieren oft akribisch ihre Vorgänger. Es reizt sie offenbar einerseits der "Ruhm", den diese durch Medienberichte und öffentliche Aufmerksamkeit erreicht haben, nach dem Motto "wenigstens einmal im Leben, und sei es beim Sterben, jemand sein, den man wahrnimmt." Verführend wirken dabei auch Genauigkeiten bei der Tatbeschreibung.
Ineinander fließend gibt es ein anderes Phänomen, dass auf Suizid bezogen bekannt ist, also auch beim ganz privaten, einsamen vorkommt: Der sogenannte Werther-Effekt. Bekannt seit den Reihenselbstmorden, die Goethes Werther auslöste, wurde das Phänomen erst 2014 in einer Studie im Zusammenhang mit Medienberichten nach Selbstmorden untersucht. Die Studie hatte herausgefunden, dass es nach intensiven Medienberichten nicht nur Häufungen von Selbstmorden in der gleichen Altersklasse gab, sondern auch regional, so der Spiegel. Der Medienpsychologe Benedikt Till erzählte in der ZEIT, was Medienschaffende beachten sollten - das kann man auch auf sein eigenes privates Verhalten beim Teilen und Kommentieren in Social Media übertragen! Der Artikel ist fünf Jahre alt, offenbar haben einige bis heute nichts draus gelernt. Einen ausführlicheren zeitlosen Artikel (pdf) bei der Uni Wien über den Werther- und Papageno-Effekt in Bezug auf die Medien.

1 Kommentar:

  1. Liebe Petra,

    ich wollte gerade anfangen, mich und alles mögliche zu sortieren und einen kleineren Artikel zu schreiben, da sehe ich deinen und bin beruhigt, denn das, was ich denke, steht da schon geschrieben. Ich werde ihn gern bei ir verlinken und dann noch ein paar wenige Gedanken dazusetzen. Angst essen nicht nur Seele auf, sondern kann auch lehren, sich zu wehren - wenn auch heute anders als in der 80ern. Übrigens habe ich deine Geschäftsgründung genau vefolgt, konnte nur nichts Konstruktives dazu beisteuern.

    Herzlichst
    Christa

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