Houellebecq lesen (2)

Statt einer Rezension in einem Guss ein Experiment: Ich lese den Roman Soumission (dt. Unterwerfung) "live" in Etappen und lasse hier an meinen Notizen zum Buch teilhaben. Ein kleiner Einblick in die Arbeit einer Feuilletonistin, wie sie vor dem Schreiben einer Rezension steht. Verweise beziehen sich auf die Originalfassung, deutsche Entsprechungen habe ich selbst übersetzt.

Ein Motto zum Buch ist nicht nur Zierde. Das Huysmans-Zitat umreißt das Lebensgefühl des Protagonisten, irgendwann beiläufig Francois genannt: "Je suis bon a rien" - ich bin zu nichts nütze. Es verweist aber auch auf den Subtext: Man sollte sich wenigstens etwas mit Joris-Karl Huysmans beschäftigen, jenem Autor der vorletzten Jahrhundertwende, den Houellebecq nicht zum ersten Mal benutzt und der ihm wie dem Protagonisten so nahe steht. Die zwei großen H. - schreiben sie beide über die Dekadenz?

Francois ist ein Antiheld, der zunächst langweilig bis abstoßend wirken kann, aber dann doch schnell gefangen nimmt, weil man seine Gedanken irgendwoher zu kennen scheint. Traurige Jugend in einer Welt, in der Geld mit Großbuchstaben geschrieben wird und für Ärmere immerhin Konsum und Sucht nach Produkten bleiben, schreibt er eine Doktorarbeit über Huysmans mit dem vielsagenden Titel "Das Ende des Tunnels." Er identifiziert sich völlig mit dem Schriftsteller und glaubt, in den Büchern dessen Seele in allen Höhen und Tiefen zu erkennen, in einem intensiven Dialog mit einem bereits Verstorbenen zu stehen. Jene literarische Welt ist ihm aufregender als die Realität, arm aber frei ist er. Doch auch das kann Francois erst erkennen, als die Zeit der Freiheit vorbei ist und die akademische Laufbahn winkt.

Dieses Leben kennen wir aus anderen Büchern von H. und wir kennen es aus unserer Umwelt: Die jungen Leute ohne Orientierung und Lust auf einen bestimmten Beruf, die eigentlich nur noch passiv funktionieren, um sich von Schablone zu Schablone zu leben, die ihnen die Eltern und die Gesellschaft vormachen. Hier meißelt H. seine Stichworte zur Befindlichkeit modernen Lebens geradezu in Stein: Gleichförmigkeit, vorhersehbare Plattituden, unwahrscheinlich tiefe Einsamkeit und ein Ekel vor allem und jedem. Liebesabenteuer werden förmlich "abgesessen" wie Praktika, ohne Gefühl, ohne Empathie, wie ein Automatismus, weil "man" das so macht. Dieser Mann lebt nicht nur beziehungsunfähig in Einsamkeit, sondern "dans le vide" - in einer Leere, die im Französischen philosophische Konnotationen hat.

Aber keine Angst: Langweilig ist dieses öde Leben für die LeserInnen nicht! Wenn es am schlimmsten scheint, sprüht H. mit Ironie und literarischem Spott. Das ekelhafte Essen der Mensa beschreibt er in Begriffen von Huysmans, den universitären Literaturwissenschaftsbetrieb als Müllgewerbe. Und wenn Francois die verschlissenen Geliebten, ausnahmslos die eigenen Studentinnen, beschreibt, dann nur um seine berufliche Karriere daran zu spiegeln. Das gipfelt in einer Beschreibung der Völker Europas anhand eines typischen Männerorgasmus und Frankreich bekommt es dann voll ab: das "peuple régicide", das Volk, das seinen König guillotiniert hat - Francois kann immer öfter nicht kommen.

Es sind oft einzelne Wörter, die die Desillusion und Gefühlsarmut dieser Welt auf den Punkt bringen. Etwa wenn er eine Frau als "völlig verschlissen" beschreibt, als "ölverschmutzten Vogel" - das ist sein purer Ekel und Überdruss ... dieses berühmte "Ennui" der Dekadenz. Immer wieder wirft man H. wegen solcher Szenen Misogynie vor, aber er spiegelt darin nur den Mann, den er genauso wenig zu mögen scheint: Dieser Kerl ist längst verschlissener als seine Frauen. Die Liebe eines Mannes ist für ihn nur Gegenleistung für erhaltene erotische Freuden - zu mehr ist er nicht fähig.

Derweil schleicht sich im eintönigen Unileben und draußen fast unbemerkt ein "Störfaktor" des ewigen Trotts ein: Ausländische StudentInnen arbeiten im Gegensatz zu den einheimischen auffallend ernsthaft, saugen auf, was sie bekommen können - Chinesen, Maghrebiner. Mädchen in Burka, überprüft von ihren Brüdern, sitzen in einer Vorlesung über Jean Lorrain. Und bei den Kollegen ist es hipp, in der Großen Moschee von Paris Tee zu trinken, beim Marokkaner zu essen. Francois bemerkt seine Automatismen: Arabisches Aussehen = Gefahr, andere Sitten = Zurückschrecken. Doch man wünscht ihm ein "Friede sei mit euch!"

Es sind die kleinen Brüche: Musliminnen in Burka interessieren sich für einen der großen Skandalautoren der Dekadenz, diesen Dandy, der offen homosexuell lebte, Drogen konsumierte und sich schminkte? Nicht nur der Protagonist fragt sich, was sich in der Welt plötzlich verändert hat. Der Front National, geführt von einer Frau (!) redet von der Liebe zu Frankreich, während Francois auf sein erlöschendes Liebesleben blickt - das ist der typisch doppelbödige Witz Houellebecqs. Ausgerechnet die militanten Politiker versprechen echte Gefühle ...

Francois, der Macho, der sich insgeheim das Patriarchat zurückwünscht, leidet wie kaum ein anderer an der Malaise, der Krankheit unserer Zeit. Nichts und niemand rechtfertigt sein Leben in einem System, in dem Scheitern nicht vorkommen darf und alles auf Konkurrenz gebürstet ist. Man vermeidet, um nicht verletzt zu werden, man wagt nicht mehr, um nicht enttäuscht zu werden. "Man langweilt sich ein wenig, aber man liest weiter." Das Wort ennui selbst kommt nicht vor, H. vermeidet auch dies, aber da taucht er immer wieder auf, dieser Schlüsselroman von Husmans, der den Subtext zum Buch bildet: "Gegen den Strich / Gegen alle". Er war die Bibel der Dekadenz, inspirierte Oscar Wilde zu seinem "Bildnis des Dorian Gray" und veranlasste einen Kritiker damals zu schreiben: ""Nach einem solchen Buch bleibt dem Verfasser nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes."

Houellebecq verschwimmt mit Huysmans, dessen Protagonist Durtal mit Francois und alle zusammen werden zur Schlüsselfigur für unsere Zeit, die neue Dekadenz eines müden, ausgelutschten Abendlandes, in dem keiner mehr an irgendetwas glaubt und jeder sich nur nach einem echten, tiefen Gefühl sehnt.
Dass Frankreich auch politisch abwirtschaftet, ist nur eine Frage der Zeit gewesen und die Gründung der Partei "Muslimische Bruderschaft" durch den gemäßigten Mohammed Ben Abbes eine schleichende, logische Konsequenz.

Was jetzt folgt zum Wahlkampf ist eine bitterböse Satire auf das heutige Frankreich, raffiniert in die Zukunft versetzt. Aber wer die genannten Zeitungen und Sender, Journalisten und Anspielungen kennt, der weiß: Da liest man Hollande und Marine Le Pen mit, dieses Frankreich des totalen Ennui und der Verzweiflung, der ungelösten Probleme und Anschläge in den Banlieues, das ist Frankreich, wie es heute leibt und lebt. Es gibt Unruhen zwischen Rechtsradikalen wie zwischen Afrikanern, Anschläge auf Moscheen und Angst vor einem drohenden Bürgerkrieg zwischen Muslimen und "westeuropäischen Eingeborenen". Immer mehr Menschen im Land haben keinen Zugang mehr zum sozialen System - und genau die haben kein Problem damit, es zu zerstören oder bei dessen Zerstörung zuzuschauen.

Aber das Land macht es nicht anders als Francois: Man schaut weg, banalisiert die alltäglichen Katastrophen - in den Medien kommen sie nicht mehr vor. Nährboden für diejenigen, die noch das totale Fühlen versprechen: FN und extreme Kräfte. Wenn da nicht jener gemäßigte Muslim wäre. Spätestens jetzt müssen wir Huysmans Suche nach Glauben in einer entleerten Welt als Subtext mitlesen ...

zu Teil 1

2 Kommentare:

  1. Eine Rezension die ich ausgedruckt habe und die mich irgendwie sehr bereichert zurücklässt. Dieses Buch habe ich nicht verstanden, dass ist mir schnell klar geworden. Und ich freue mich über dieses Augenöffnen! LG xeniana

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  2. Freut mich, wenn ich damit inspirieren konnte, Xeniana.
    Allerdings ist das, was ich geschrieben habe, keine Rezension, sondern eine Zusammenschau meiner Gedanken und Notizen zum ersten Teil (bis zum Anschlag mit den Schüssen etwa).
    Das hätte ich jetzt bis zum Schluss so weitertreiben können und erst dann entsteht aus diesem Nachdenken eine Rezension.

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